„Das Malen lenkt mich vom Alltag ab“

Das Kunstprojekt „Sehreise 2“ brachte in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge Frauen zusammen
von Florian Lerchbacher
Zur Not hilft sich Rimma Elistratow mit Zeichen und Gesten: Die Künstlerin war eine von vier Neustädterinnen, die in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) gemeinsam mit Flüchtlingsfrauen malte.
Neustadt. „Zuhause im Iran habe ich nie gemalt“, betonte Saeideh A., während sie ihr Erstlingswerk fertigstellt: Ein beeindruckendes Bild, in dem sie Motive aus Europa und dem Nahen Osten vereint. Zu sehen sind unter anderem Äpfel, die beim in zehn Tagen anstehenden persischen Neujahrsfest ein wichtiges Symbol für Gesundheit sind, Sprossen als Zeichen für Munterkeit sowie bemalte Eier – die im Iran für Fruchtbarkeit stehen und gleichzeitig in Deutschland ein zentrales Symbol des nahenden Osterfestes sind. Die drei Fische auf ihrem Bild repräsentieren Freiheit – und das, obwohl sie in einem Glas leben. Ganz ähnlich also zu Saeidehs eigenem Leben, das sie in Freiheit in Deutschland verbringt – wobei sie in der Erstaufnahmeeinrichtung auf eine Entscheidung über ihr Asylverfahren wartet. „Das Malen lenkt mich vom Alltag ab. Ich komme auf andere Gedanken“, freut sie sich über die Möglichkeit, die ihr das Kunstprojekt „Sehreise 2“ von Arbeit und Bildung bietet.

Ziel sei es, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, betont Projektleiterin Dr. Stefanie Alexa Stork – die zunächst in Kehna behinderte und nichtbehinderte Menschen und nun geflüchtete und einheimische Frauen einander näherbrachte. Daher heiße das Projekt auch „Brückenbauer“, ergänzt Stork, während sich die für die Ehrenamtskoordination in der Einrichtung zuständige Elisabeth Schmidt vom Diatonischen Werk freut: „Die Frauen lernen einander ihre Kulturen kennen und tauschen sich aus. Für die Geflüchteten ist das Malen eine gute Möglichkeit, sich auszudrücken.“
Besonders eindringlich ist dies der Armenierin Tatev G. gelungen, die ihre Gedanken in einem Bild zusammenzufassen versuchte. Eindeutig ist das Kreuz, mit dem sie ihren Glauben ausdrückt: „Glauben und Hoffnung sind wichtig.“ Zudem findet sich in ihrem Werk aber auch eine Maske wieder: „Ich möchte nicht zeigen, welche Schwierigkeiten meine Familie und ich hatten“, erklärt sie und betont, eigentlich nicht über ihre Sorgen sprechen zu wollen – gibt aber dann doch einige Beispiele: „Ich will nicht mit jedem darüber reden, wie schwer das Leben mit einer fremden Sprache ist oder was für Ängste ich habe, was mich und meine Familie in der Zukunft erwartet.“
Am 22. März geht’s weiter
Auf einem weiteren Teil ihres Bildes geht es eher chaotisch zu: „Das sind meine Gedanken. In meinem Kopf ist es durcheinander. Ich weiß zum Beispiel nicht einmal, ob es gut war, nach Deutschland zu kommen.“
Fröhliche Bilder von ihr gebe es nicht, schließt Tatev G. und erklärt: „Ich male, wenn es mir nicht gut geht.“ Eine Ausnahme bildete dabei die „Sehreise 2“, während der sie sichtbaren Spaß hatte, sich mit den anderen Frauen und auch ihrer Tochter auszutauschen und zu beraten: „Das Maien verbindet – man fühlt sich nicht so alleine.“
Für EAE-Leiter Dominik Zutz ist das über die Leader-Region „Marburger Land“ geförderte und von der Sparkasse Marburg-Biedenkopf unterstützte Projekt ein weitere Baustein, um das Leben der Flüchtlinge in der Einrichtung abwechslungsreicher zu gestalten – aber auch, um die Einheimischen besser kennenzulernen. Ina Veite, Pressesprecherin vom Regierungspräsidium, fügt hinzu: „Es ist ähnlich wie beim Sport: Man braucht beim Malen eigentlich keine Worte.“ Manchmal reichen eben Gesten und Zeichen – und vor allem Bilder.
Am 22. März ist die „Sehreise“ erneut in der EAE zu Gast. Aus den Kunstwerken der Frauen soll auch eine Ausstellung entstehen. Wo diese zu sehen sein wird, steht noch nicht fest.