Groll will die Kritiker „mitnehmen“

Ehrenamtsarbeit der Neustädter soll Integration von Flüchtlingen erleichtern Zwei flammende Reden

Etwa eine Stunde dauerte die Stadtverordnetenversammlung in Neustadt. In mehr als der Hälfte der Zeit ging es um Stellungnahmen zur Flüchtlingsthematik.

von Florian Lerchbacher

Neustadt. Eine Woche war es her, dass die Erweiterung der Neustädter Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) für Flüchtlinge bekannt wurde, als Bürgermeister Thomas Groll in der Stadtverordnetenversammlung zur Rede ansetzte. Zunächst widmete er sich der Flüchtlingsthematik aus deutschlandpolitischer Sicht. Die Bundesrepublik habe den Ernst der Lage zu spät erkannt, sagte er. Nur so sei erklärbar, dass aus den einst geschätzten 300 000 Flüchtlingen, die im Jahr 2015 nach Deutschland kommen, nun mehr als eine Million werden. Er plädierte dafür, die Hilfe in den Krisengebieten anzusetzen und gleichzeitig Wirtschaftsflüchtlingen in Deutschland keine Bleibeperspektive zu geben. Vor Ort gelte es, Systeme aufzubauen, um den Menschen das Hineinfinden in die Gesellschaft zu erleichtern. Wichtig sei dabei, die „Kritiker mitzunehmen“. Wobei er warnte: „Wir dürfen weder in Sozialromantik verfallen, noch jeden Flüchtling per se als Kleinkriminellen ansehen.“ Groll hob hervor, dass die Stadt sich aus humanitären Gründen der Entscheidung der Landesregierung, die Neustädter Einrichtung zu erweitern, nicht habe verschließen wollen: „Dabei ist allen Verantwortlichen bewusst, dass eine solche Einrichtung das Leben in einer Kleinstadt verändert, und dass gerade die direkten Anlieger mit mancher nicht akzeptablen Verhaltensweise konfrontiert werden.“ Die „örtlichen Verantwortlichen“ hätten sich davon leiten lassen, dass Menschen, die in Not sind, Hilfe erhalten und menschenwürdig behandelt werden müssen. Essentiell sei eine vernünftige Unterkunft – und die sei ein Zelt nicht.

Im Laufe seiner Rede ging der Bürgermeister auch auf Polizeieinsätze ein. Er wolle die Auseinandersetzungen nicht klein reden, aber es lebten immerhin 800 Menschen auf begrenztem Raum, die unterschiedlichster Nationalitäten und Glaubensrichtungen seien. Auch wenn Gewalt kein Mittel sei: „Da bleiben Konflikte nicht aus.“ In diesem Zusammenhang forderte er auch erneut die Erweiterung der Polizei im Ostkreis, schließlich gebe es inzwischen zwei Erstaufnahmeeinrichtungen in der Region sowie Flüchtlingsunterkünfte in allen Gemeinden – mehr Menschen bedeuteten mehr Konfliktpotenzial.

Groll lobte das Land Hessen für die Unterstützung der Kommunen. Es gebe Gelder für den Aufbau einer Ehrenamtskoordination und „endlich Ansätze einer vernünftigen Sozialarbeit“. In diesem Zusammenhang erinnerte er an zwei Seminare der Freiwilligen Agentur rund um die Flüchtlingsarbeit. Die Stadt werde für die Ehrenamtlichen die Kosten für die Teilnahme tragen, betonte er und analysierte:

Wenn die Neustädter den direkten Kontakt zu den Menschen haben, sei es weitaus einfacher, diese mit herrschenden Gepflogenheiten und Einstellungen vertraut zu machen.

Abschließend stellte er heraus, dass die Stadt aufgrund der Erstaufnahmeeinrichtung vom Land finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt bekomme, die in die örtliche Infrastruktur fließen sollen – so könnten wahrscheinlich früher als erhofft Sorgenkinder wie das Haus der Begegnung angegangen werden. “Entsprechend profitiere auch die „örtliche Gemeinschaft“.

Hans-Gerhard Gatzweiler (SPD) fügte hinzu, dass durch die EAE auch weit über 100 Arbeitsplätze in der Stadt geschaffen wurden. Außerdem widmete er sich Unternehmen, die sich beklagt hatten – und zum Beispiel extra Sicherheitsleute einstellten: „Ja, sie haben eine gewisse Belastung, aber auch viele Vorteile.“ Die Flüchtlinge würden schließlich dort einkaufen gehen und ihr Geld lassen.

„Die eigentliche Herausforderung wird kommen, wenn die Flüchtlinge die Anerkennung ihres Asylantrages haben und die Menschen in Lohn und Brot gehen wollen.“ Abschließend erinnerte er daran, dass viele Bürger einst auch über die nach Neustadt ziehenden Russlanddeutschen geklagt hätten – die aber inzwischen maßgeblichen Anteil am Leben in der Stadt hätten. Wer Kritik übe, solle an die Schicksale denken, die hinter dem Begriff „Flüchtling“ stecken. Gatzweiler appellierte an seine Mitmenschen: „Wir haben schon viel geleistet und wollen noch viel leisten. Jeder sollte anpacken.“