Landwirte sollen die Wassermassen aufhalten

Veränderungen sollen der Stadt die Rückhaltebecken ersparen
Mindestens vier Millionen Euro müsste die Stadt Neustadt für einen optimalen Hochwasserschutz ausgeben – in Zeiten klammer Kassen kommt das für Kommunalpolitiker nicht infrage.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Strukturelle Veränderungen auf den Feldern, Schlammfänger und acht Regenrückhaltebecken – all das zusammen würde Neustadt optimal vor aus Starkregen resultierendem Hochwasser schützen. Umgesetzt werden diese von Diplom-Ingenieur Wolfgang Strähle und dem Ingenieurbüro für Umwelttechnik und Bauwesen entwickelten Vorschläge in ihrer Gesamtheit jedoch nie. Das stellte Bürgermeister Thomas Groll schon im Vorfeld der Präsentation des Gutachtens klar. Der Grund ist einfach: Vier Millionen Euro müsste die Stadt mindestens zahlen, und über solche Summen verfügt sie schlicht nicht.
Strähle hatte das in den vergangenen zwei Jahren alleine fünfmal betroffene Gebiet rund um die Innenstadt genauestens begutachtet, Luftbilder ausgewertet und Zahlen analysiert. Am 5. Juni 2011 waren zum Beispiel 20 bis 69 Liter innerhalb von 30 Minuten pro Quadratmeter heruntergekommen – solch enorme Mengen regnet es nur seltener als alle 100 Jahre herab. Auf die Statistik und das Glück will sich die Stadt aber nicht verlassen, stellte Groll klar.
Die Kanäle sind auf solche Wassermassen nicht ausgelegt: Der Kanal in der Momberger Straße kann zum Beispiel 10 Liter pro Sekunde ableiten, müsste bei einem Unwetter wie am 5. Juni 410 Liter pro Sekunde ableiten. Solche Dimensionen seien bei den Kanälen natürlich nicht sinnvoll, erklärte Strähle. Viel eher würde sich ein Rückhaltebecken anbieten, in das das Wasser eingeleitet und anschließend gedrosselt abgegeben wird.
Acht dieser Rückhaltebecken wären für den optimalen Schutz notwendig. Die Kosten wären von den Wassermassen, den Kanälen und den Feldern abhängig und würden zwischen mehr als 100 000 Euro und weit über einer Millionen Euro variieren.
Strähle hatte aber auch einen massiven Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden der Stadt festgestellt: Im Süden würde nur ein Rückhaltebecken benötigt. Dort gebe es keine Vollnutzung der Flächen durch Landwirte, viel eher prägten auch Grünflächen das Bild.
Groll hob hervor, dass nicht die Landwirte Schuld am Hochwasser seien. Volker Zinser (CDU), selber Landwirt, gab aber zu, dass es auf „extrem erosions-gefährdeten“ Flächen von vier Landwirten Probleme bei der Absprache gegeben habe: Ein Unwetter habe Neustadt getroffen, als diese gerade Mais auf den Feldern stehen hatten, das zweite sei kurz nach der Rapsaussaat aufgetreten. „Wir müssen die Verteilung der Frucht auf den gefährdeten Flächen absprechen und Unterschiedliches anbauen. Dann müssen wir keine Flächen zur Lebensmittelherstellung zerstören.“
Seine Aussage untermalte Strähle, der „Präventivmaßnahmen“ ins Spiel gebracht hatte, um die Risiken der Erosion – also des Abtrages von Gestein und Boden – zu verringern. Die Landwirte müssten auf Mais verzichten, quer zum Hang ihre Felder bewirtschaften, auf Zwischenfrucht mit Mulchsaat setzen oder Schonstreifen einrichten. Ende des Monats bespricht der Wasser- und Bodenverband Marburger Land das Thema mit den Landwirten. Dann kommt auch ein Förderprogramm des Landes auf den Tisch. 5 000 Euro hat die Stadt Neustadt dafür auch schon in den Haushalt eingestellt: „Wenn die Bewirtschaftung erschwert wird, muss man schließlich auch für einen Ausgleich sorgen“, kommentierte Groll.
Bis zu zwei Drittel der Wassermassen könnten allein durch diese strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft abgefangen werden, hatte Strähle analysiert. Entsprechend will die Stadt zunächst auf diesen Punkt setzen – auch vor dem Hintergrund, dass in diesem Jahr, so Groll, „keine weiteren Mittel verfügbar“ sind.
Für die Verwaltung und die Fraktionen heißt es nun gemäß der Empfehlung des Ingenieurbüros, das Gutachten zu analysieren und zu hoffen, dass die Landwirte die Anregungen umsetzen. Falls ein weiterer Schritt notwendig wäre, würde die Stadt nach derzeitigem Stand auf den Bau von Schlammfängern setzen, die weitaus kostengünstiger als Rückhaltebecken sind und zumindest den Schlamm aus Neustadt heraushalten.