Von Luther über Marx zum Wettbewerb

Thüringens Ministerpräsident Ramelow war Gastredner einer Gedenkveranstaltung der Stadt Neustadt
Bodo Ramelow hielt in Momberg einen abwechslungsreichen Vortrag zum Thema „200 Jahre Karl Marx“. Thüringens Ministerpräsident übertrug dabei die Ansichten des Ökonomen und Philosophen auf die heutige Zeit.
von Florian Lerchbacher
Momberg. Fäden spinnen, sie fallen lassen, später wieder aufgreifen und mit anderen verknüpfen – Bodo Ramelow hat dieses Talent. Ohne Skript hielt er eine weit über halbstündige Rede, die bei den mehr als 130 Zuhörern im Momberger Dorfgemeinschaftshaus tiefen Eindruck hinterließ. Dabei schnitt er Themen an wie die Flüchtlingskrise, Kinderarmut, Martin Luther oder die digitale Revolution – und brachte alles in Verbindung zu den Theorien von Karl Marx, der in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag gefeiert hätte. Aus diesem Anlass richtete die Stadt Neustadt eine Gedenkveranstaltung aus, für die sie über den Landtagsabgeordneten Jan Scha lauske (Die Linke) Thüringens Ministerpräsidenten als Redner gewonnen hatte.
Ramelow widmete sich sogleich der Frage, ob es nicht kritisch sei, Karl Marx angesichts von Schlagworten wie Marxismus oder Leninismus zu feiern. Er stellte heraus, dass die Feierstunde sich um einen der größten deutschen Philosophen und Gesellschaftskritiker drehe und fragte: „Was kann Karl Marx dafür, dass andere in seinem Namen Gulags bauen?“ Zudem erinnerte er daran, dass die Deutschen im vergangenen Jahr Martin Luther feierten. Dieser sei Reformator und Übersetzer der Bibel: „Es gehört aber auch der Antisemit der letzten Jahre dazu.“ Gleichzeitig könne man Luther nicht dafür verantwortlich machen, dass die Nazis seine Einstellung als Rechtfertigung für ihre Rassenpolitik nutzten.

Eine der Theorien von Karl Marx, die Ramelow aufgriff, war das Basis-Überbau-Schema. Grob gesagt benötigt eine kapitalistische Produktionsweise einen festgelegten Rechtsrahmen. Er übertrug dies auf die heutige Zeit und nannte als Beispiel ein riesiges Versandhaus, das seinen Vertriebssitz in Hessen habe, seine Rechnungen aber – ohne, dass die Kunden es merken – aus einem Land schicke, wo die Steuern für das Unternehmen am niedrigsten seien: „So zahlt es in Europa keinen Cent Steuern – erwartet aber ein Rechtssystem, das funktioniert, um seine Mahnungen durchsetzen zu können.“
Doch das ist nicht das einzige, was Ramelow an der heutigen Gesellschaft stört: Er monierte, dass Hedge-Fonds in weiten Teilen Afrikas die Wirtschaft bestimmen würden. „Wenn dort Monokultur betrieben wird, damit es in Europa genug Tierfutter gibt, dann ist das fehlerhaft.“ Gleichzeitig müssten sich die Europäer nicht wundern, dass viele Afrikaner hierher fliehen – sie würden schließlich schlicht dorthin wollen, wo sie aufgrund der bei ihnen bestimmenden Wirtschaft den Wohlstand und das bessere Leben wähnten: „Diese Wirtschaft tötet“, lautete sein Fazit. Insgesamt müsse ein Wettbewerb fair sein: „Sonst zerstört er.“ Es gelte, seinen Nachbarn als Menschen zu erkennen, mit ihm zu reden und zu besprechen, welche Ideen und Ansätze die Welt verbessern können. Einer seiner Ansätze – womit Ramelow den Luther-Faden wieder aufnahm: Bildung und Betreuung muss kostenlos sein – auch wenn das Geld koste.
Hatte Bürgermeister Thomas Groll, der Initiator der Gedenkveranstaltungen, sich zu Beginn noch gefreut, seinen ehemaligen Geschichtslehrer Klaus Reese unter den Gästen entdeckt zu haben, so traf auch Ramelow auf eine seiner alten Lehrerinnen: Stefanie Wolf WEIT einst seine Politiklehrerin an der kaufmännischen Oberschule in Marburg. Er sei ein guter und engagierter Schüler gewesen, erinnerte sie sich im Gespräch mit dieser Zeitung und freute sich besonders über seine klaren Aussagen dazu, was gesellschaftspolitisch passieren müsse.
Ramelow war der dritte thüringische Ministerpräsident, der einer Gedenkveranstaltung in Neustadt als Gastredner beiwohnte. In den vergangenen Jahren hatte die Stadt bereits Bernhard Vogel und Christine Lieberknecht für sich gewonnen. „Sie könnten uns bald eingemeinden“, scherzte Groll und widmete sich der Frage, warum er als CDU-Mitglied im Wahljahr einen Linken eingeladen habe: „Warum auch nicht. Er hat in einem Interview gesagt, dass er mit unserem Ministerpräsidenten Völker Bouffier gut auskommt und ihn schätzt – und das tue ich doch auch. Außerdem hat er Frau Lieberknecht zum 60. Geburtstag gratuliert – was ich auch tat.“
Musikalisch untermalte das Trio Semplice die Gedenkveranstaltung – unter anderem zur Eröffnung mit dem Rennsteiglied, bei dem Ramelow sogleich voller Freude mitsang.