Linken-Politiker sprach in Neustadt vor 400 Zuhörern zur Wiedervereinigung
Von Michael Rinde
Neustadt.
Dr. Gregor Gysi füllt nach wie vor Hallen, wenn er vor Ort spricht. So war es auch in Neustadt. Mit rund 400 Besuchern war das Kultur- und Bürgerzentrum prall gefüllt, als Gysi ans Mikrofon trat. Gysi, eine Ikone der Partei Die Linke und ihrer Vorgänger SED und PDS, war Zeitzeuge. Er war unmittelbar an der friedlichen Revolution in der DDR dran, hat unter anderem vor fast einer Million Menschen in Berlin im November 1989 gesprochen.
Bürgermeister Thomas Groll stellte ihn kurz vor, danach zeigte Gysi, dass er wie seit Jahrzehnten gewohnt deutliche Positionen rhetorisch brillant herüberbringen kann.
Gysi sprach zu 35 Jahren Wiedervereinigung im Zuge der zeitgeschichtlichen Reihe in Neustadt. Rückblickend kommt von ihm ein deutlich formuliertes „Ja“ zur Wiedervereinigung vor Jahrzehnten. Doch er sieht große Defizite beim Weg zur Vollendung dieser Einheit. Ursachen erkennt er in nicht korrigierten Fehlern bei der eigentlichen Wiedervereinigung vor dreieinhalb Jahrzehnten. Aber er betont genauso auch das Positive auf dem Weg zu diesem historischen Ereignis. „Die Gewaltfreiheit auf beiden Seiten, das war das Große“, sagte er. Dies war eine der Stellen während seines knapp 50-minütigen Vortrages, an dem Gysi besonders intensiven Zwischenapplaus bekam.
Nur Ampelmännchen übernommen
Doch zu den Schattenseiten, die der 77-Jährige klar skizzierte. Er sprach von „Demütigung“ für Menschen in der damaligen DDR bei jenem Beitrittsprozess zur Bundesrepublik Deutschland. Der Osten sei auf Stasi, SED und Mauertote reduziert worden. „Von der DDR wurden nur Sandmännchen und Ampelmännchen übernommen“, spitzt es Gysi zu. Dabei habe die DDR durchaus Dinge vorzuweisen gehabt. In Sachen Gleichstellung von Frauen und Männern sei die DDR weiter gewesen, er verweist auf eine wesentlich bessere Kinderbetreuung. Auch die Struktur und das System der Polikliniken nennt er beispielhaft, lobt im Rückblick die hohe Effizienz.
Aber er benennt auch die expliziten Schattenseiten der DDR, das Wort Unrechtsstaat benutzt er dabei aber nicht, nennt die Unfreiheit, den Zwang, die Mauer.
Gregor Gysi, seit 2005 ununterbrochen Bundestagsabgeordneter, früherer Oppositionsführer und Parteivorsitzender der Linken, benennt in seinem Beitrag in Neustadt auch emotionale Befindlichkeit in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Im Westen habe man bei der Wiedervereinigung keinen Ertrag gesehen. „Man hat nur die Ossis hinzubekommen“, so Gysis Einschätzung.
Er sieht nach wie vor bei allem Positiven, was die Wiedervereinigung gebracht hat, Handlungsbedarf auf gesellschaftlicher Ebene. Auch beim Blick auf die Gesellschaftsstruktur.
Während seines Vortrages wird der Linken-Politiker auch grundlegender. Er mahnt ein Umdenken an. „Wir sollten uns alle mal gelegentlich anschauen, was wir haben, nicht, was uns fehlt“. Dann lebe man auch gesünder und letztlich länger.
Er fordert an anderer Stelle dazu auf, wegzukommen von einem „System der Sanktionen“ hin zu einem „System der Boni“, also des konsequenten Schaffens von Anreizen, etwa beim Bürgergeld, statt von Strafen bis hin zu kompletten Leistungsentzügen. Gysi nennt eine generelle „Politik der Angebote“ als Ziel.
Der Berliner ließ bei seinem Auftritt immer wieder seinen Humor und seine Sprachgewandtheit durchblicken. Bürgermeister Groll hatte bei der Vorstellung auch hervorgehoben, dass Gysi, der promovierte Jurist, auch gelernter Facharbeiter für Rinderzucht ist. Im Vortrag erklärt er, dass dies Teil der Schulbildung gewesen sei. Eigentlich habe er Kfz-Mechaniker werden wollen. „Doch jetzt weiß ich, wie man ausmistet und mit Hornochsen umgeht“.
Musikalisch war diese Veranstaltung im Übrigen auch in besten Händen. Es spielte das „Trio Semplice and friends“.

