Zu Ehren der Familie Stern fand in Neustadt erstmals eine Stolpersteinverlegung statt
Von Florian Lerchbacher
Neustadt.
„Es ist gut, wenn sich junge Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen – auch wenn es auch einigen älteren guttäte, dies zu tun, ohne Geschichtsklitterung zu machen“, sagte Kreisbeigeordneter Klaus Weber während der ersten Stolpersteinverlegung in der Stadt Neustadt.
Ähnlich hatte sich kurz zuvor Bürgermeister Thomas Groll geäußert, der zwar nicht von Verleugnung der deutschen Geschichte durch einige Menschen sprach, wohl aber von der Gefahr, dass sich in der derzeitigen politischen Situation und in der „aufgewühlten“ Gesellschaft Geschichte durchaus wiederholen könne. Entsprechend sei es wichtig, die Zeit des Nationalsozialismus und die Gräueltaten nicht zu vergessen und der Opfer zu gedenken. Zum Gedenken an die Familie Stern verlegte Künstler Gunter Demnig vor mehr als 100 Gästen am Montagmittag sechs Stolpersteine vor dem Haus in der Lehmkaute 7. Dort hatte die Familie vor ihrer Zwangsumsiedlung gelebt. Den Anstoß für die Gedenkaktion hatten Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse der Martin-von-Tours-Schule um Lehrer Roman Mehler gegeben. Kira Eichler, Chantal Spies, Lea Marozsaan, Phillip Thierau, Irem Yediler und Lea Stark (am Montag erkrankt) recherchierten mit Unterstützung von Stadtarchivarin Andrea Freisberg die Schicksale von Karl Stern, seiner Frau Erna, seiner Schwiegermutter Betty Abraham und der Kinder Harry, Ellen und Marion.
Die Sterns waren eigentlich verwurzelt im Neustädter Leben, so war Vater Karl beispielsweise leidenschaftlicher Radfahrer. In der Zeit des Nationalsozialismus änderte sich jedoch die Stimmung in der Stadt. Die Lehmkaute wurde beispielsweise umbenannt in Adolf-Hitler-Straße, weil – so lässt sich in historischen Dokumenten nachlesen – „der Geist Adolf Hitlers durch die Straße von Speckswinkel kommend nach Neustadt einzog“.
Einst hatten 120 jüdische Menschen in Neustadt gelebt
Schon einen Tag vor der Reichskristallnacht kam es in Neustadt zu Übergriffen auf jüdische Menschen. Karl Stern wurde damals mit einem Knüppel bewusstlos geschlagen und so schwer verletzt, dass er drei Wochen lang ins Krankenhaus musste.
Auf Anordnung musste er kurz danach das Haus verkaufen, in dem seine Familie schon ein Jahrhundert gelebt hatte. Er musste Zwangsarbeit leisten, ehe die Familie im Jahr 1941 Neustadt verlassen musste und letztendlich ins Getto Riga deportiert wurde. In einem Brief schrieb er damals von Blut in den Straßen und davon, dass Erhängungen, Erschießungen oder Totschlag an der Tagesordnung waren. Im weiteren Verlauf der Nazi-Zeit kam die Familie in verschiedene Konzentrationslager. Betty Abraham und Marion Stern wurden von den Nazis ermordet, die anderen vier schafften es zu überleben und wanderten letztendlich in die USA aus.
„Es ist immer wieder erschütternd, was Menschen Menschen antun“, resümierte Dieter Trümpert, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine, die sich in Neustadt gegründet hat. Einst hatten 120 jüdische Menschen in der Stadt gelebt. Dies war die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Umgebung, erinnerte Groll und betonte, dass 70 der ehemaligen Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Nazizeit einen qualvollen Tod fanden. Nur ein Mann sei nach dem Zweiten Weltkrieg in die Stadt zurückgekehrt.
Der Bürgermeister kündigte an, dass die erste Stolpersteinverlegung – die mit Blumenniederlegungen und Gebeten von Thorsten Schmermund, Gemeinderat der jüdischen Gemeinde Marburg, endete – nicht die letzte gewesen sein solle. Lange war das Gedenkprojekt in Neustadt abgelehnt worden. Nach dem Aufstellen eine „Bank der Erinnerung“ am Rathaus änderte sich die Einstellung aber langsam.
An diesem Dienstag, 1. April, findet ab 9 Uhr in Halsdorf in der Nachbargemeinde Wohratal die nächste Stolpersteinverlegung statt. An folgenden Stellen werden insgesamt 25 Stolpersteine verlegt: Auestraße 15, Heckenweg 6, Hauptstraße 23, Buchenweg 4, Mühlbergstraße 16.