Neustadt hält Erinnerung an Pogromnacht lebendig

Erstmals Gedenken an Zerstörung der Synagoge im November 1938
Von Michael Rinde

Neustadt.
Es ist ein besonderes Gedenken am Nachmittag des 8. November 2025 in der Marburger Straße in Neustadt. Etwa 30 Neustädterinnen und Neustädter stehen vor dem Standort der früheren Synagoge. Am 8. November 1938 war Nordhessen eine der ersten Regionen in Nazi-Deutschland, in denen es zu gut organisierten Pogromen gegen jüdische Mitbürger kam. Hass und Antisemitismus brachen durch. Stadtarchivarin Andrea Freisberg sprach von der „Blaupause“ für die einen Tag später geschehenden Ereignisse der Reichspogromnacht.
In der Kleinstadt Neustadt zogen etwa 250 bis 300 Menschen durch die Straßen zur Synagoge, angeführt von Sturmabteilung (SA) und Hitlerjugend (HJ). Sie zerstörten die Synagoge, Bänke flogen auf die Straße, es wurden Feuer angezündet, Thorarollen geschändet.

Beim Marsch des Schreckens wurden in Neustadt jüdische Wohnungen gezielt mit Steinen beworfen. Ein jüdischer Mitbürger, mutmaßlich Karl Stern, wurde von zwei Schlägern krankenhausreif geschlagen. So hat er es 1947 eidesstattlich zu Protokoll gegeben. Stern überlebte den Holocaust. An ihn erinnert ein Stolperstein.

In Neustadt wurden am 9. November 1938 zehn jüdische Bürger in Schutzhaft genommen, acht kamen in ein KZ, zwei wurden altersbedingt freigelassen. Mit 130 Mitgliedern waren die jüdischen Gemeinden in Neustadt und Momberg die wohl größten in der Region. Wenige Jahre vor der Pogromnacht war die Synagoge mit großen Mühen und ohne finanzielle Hilfe der Stadt renoviert worden. Wiederaufgebaut wurde sie nach dem November-Pogrom der Nazis nicht mehr. „Eine Synagoge, die so geschändet wurde, durfte nicht mehr als Gebetshaus genutzt werden“, sagte Andrea Freisberg. Auch das war Teil des Kalküls.

Ein Jahr später wurde das Haus in der damaligen Allendorfer Straße 14 (heute Marburger Straße 11) abgerissen. Neustadts Nazis feierten sich dafür.

Hinter dem Gedenken in der Marburger Straße stand der Arbeitskreis Stolpersteine. Im März 2026 werden in Neustadt weitere verlegt. Der Arbeitskreis freut sich über weitere Unterstützer.

Tief berührender Schluss

Neustadts Bürgermeister Thomas Groll machte klar, um was es jetzt, in der Gegenwart geht: „Wir erinnern uns, weil jede Generation Verantwortung trägt dafür, dass Geschichte nicht vergessen wird.“ Und er formulierte einen Appell: „Lasst uns eine Gesellschaft gestalten, in der Vielfalt nicht Bedrohung ist, sondern Bereicherung.“

Den tief berührenden Schlusspunkt unter das Gedenken am Ort einstigen Leides setzte Kerstin Richter-Broska. Sie sang „The Rose“ von Bette Middler. Ein Teilnehmer legte stumm einen Stein zwischen die Kerzen – im Judentum ein Symbol des Gedenkens an Tote.