Gemeinsam den Fluten widerstehen

Bundespräsident a.D. Christian Wulff hielt in Neustadt eine Rede
VON FLORIAN LERCHBACHER
NEUSTADT. „Tag der Be­freiung-8. Mai 1945.“ So lau­tete das Thema des Vortrages, den Christian Wulff während der kulturgeschichtlichen Reihe im Kultur- und Bürger­zentrum Neustadt hielt. Doch wer von den mehr als 150 Zu­hörenden nun dachte, der ehemalige Bundespräsident würde einfach nur auf das 80 Jahre zurückliegende Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazizeit zurückblicken, der sah sich getäuscht: Wulff schlug viel eher einen Bogen von damals nach heute und mahnte, dass sich angesichts der weltpolitischen Entwick­lung Geschichte zu wiederho­len drohe. Er erinnerte an die Worte der jüngst verstorbenen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer, die vor zwei Jahren mit Blick auf die politischen Strömungen in Deutschland gesagt hatte: „So hat es damals auch angefan­gen.“
Doch der Bundespräsident a.D. blickte auch über die Lan­desgrenzen hinweg, zum Bei­spiel nach Russland oder in die USA. Präsident Wladimir Pu­tin habe ihn beispielsweise einst gefragt, warum er denn ständig ganz Europa im Blick habe und nicht einfach eine Einigung zwischen Russland und Deutschland anstrebe. Für ihn zähle der europäische Gedanke, betonte Wulff: Die Staaten seien so miteinander verwoben, dass es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht einmal ansatzweise so etwas wie einen Krieg zwischen Ländern gegeben habe. Die Einigkeit und der Zusam­menhalt seien eine tolle und wichtige Errungenschaft: „Gemeinsam sind wir stark und können Fluten widerste­hen. Einzeln würden wir ein­fach von ihnen mitgerissen.“ Nie wieder dürfe es „Hinter­zimmerdiplomatie“ geben.
„ Unser Ass im Ärmel ist die Europäische Union“, sagte er und hob die Vorzüge des Rechtsstaates und der Demo1 kratie wie Meinungs-, Demonstrations- oder Presse­freiheit oder auch die Gewal­tenteilung hervor. Errungen­schaften, für die einst ge­kämpft und gestorben würden – und die nun beispielsweise ein Donald Trump als ameri­kanischer Präsident mit Füßen trete. Entsetzt habe er gehört, wie Elon Musk sagte, dass Em­pathie das größte Problem Europas sei.
Für diese Männer zähle nur der eigene Erfolg: „Mitgefühl ist für Trump und Musk ein Zeichen der Schwäche. Wenn dieses Denken Platz greift, dann droht uns Ungemach.“ Es gelte, „unsere Demokratie, unser Europa, unsere Frei­heit“ zu verteidigen und wei­terhin die Menschenwürde zu achten – und zwar die Würde jedes einzelnen Menschen. Es gelte, sich weiterhin zur Viel­falt zu bekennen. „Wer will schon einfältig sein?“, fragte Wulff und betonte, dass De­mokratie vom Mitmachen, von Haltung und von Mut lebe. In einer Zeit, in der viele Men­schen nur aufs eigene Wohl achteten, sei er in großer Sor­ge. Besonders im Internet stel­le er immer wieder fest, dass die Menschen in Blasen lebten und es für sie nur zwei Mei­nungen gebe: die eigene und die falsche.
Dabei sei es so wichtig, dass es echte Diskussionen gebe in den man es auch für möglich halte, dass andere Recht hab en – und man die eigene Meinung auch ändern könne. „Trefft Eure Nachbarn. Tauscht Euch aus und tretet der Endzeitstimmung, der Feindseligkeit und der Entmenschlichung entgegen“, riet Wulff aus. Man dürfe nicht den en auf den Leim gehen, die Apokalypse betreiben. Deutschland sei noch immer die drittgrößte Wirtschaftsmacht. So schlecht stehe es al­so nicht um das Land.
Diktatur, Nationalismus, Hass, Ausgrenzung – all dies hätten die Menschen in den vergangenen 80 Jahren über­wunden. Auch dank der Be­reitschaft, zu vergeben. Es gelte weiterhin dafür einzutreten und sich für ein empathisches und freiheitliches, friedliches Europa einzuset­zen. Nur wenn die Menschen das schafften, hätten sie aus der Vergangenheit gelernt, schloss Wulff.