70 von 120 Juden starben qualvollen Tod

Neustädter erinnerten an die Reichspogromnacht, die in ihrer Stadt schon einen Tag früher stattfand

Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung prägen heutzutage wieder den Alltag, bedauerte Monika Bunk während der Gedenkveranstaltung „80 Jahre Pogromnacht“
von Florian Lerchbacher
Neustadt. 80 Jahre liegt eines der traurigsten Kapitel der deutschen Geschichte zurück: In der Nacht vom 9. auf den 10. November gab es im Deutschen Reich massive, vom Regime organisierte Gewalt gegen Juden – in Momberg und Neustadt sogar schon einen Tag früher. Dort attackierten und inhaftierten rund 250 Menschen ihre Mitbürger, mit denen sie zuvor in Frieden gelebt hatten, zerstörten Häuser und Synagogen. Der Beginn der systematischen Judenverfolgung.
Dies berichteten fünf Neuntklässler der Martin-von-Tours- Schule gestern während der von der Stadt Neustadt organisierten Gedenkveranstaltung „80 Jahre Pogromnacht“.
Zuvor hatte Bürgermeister Thomas Groll bereits daran erinnert, dass 1933 noch 120 Menschen jüdischen Glaubens in Neustadt gelebt hatten. Menschen, die Nachbarn, Freunde und Vereinskameraden gewesen seien und teilweise im Ersten Weltkrieg Seite an Seite mit ihren späteren Peinigern gekämpft hatten. 1942 wurden die letzten Juden aus Neustadt deportiert – 70 der 120 starben einen qualvollen Tod in Konzentrationslagern.
Einige Neustädter trugen an den Gräueltaten eine persönliche Schuld, betonte Groll und ergänzte, dass die breite Masse indes geschwiegen habe: „Natürlich können wir in der Nachschau sagen, dass sie anders hätten handeln müssen. Aber fragen wir uns doch, was wir getan hätten in einer Diktatur, umgeben von Denunzianten.“ Ein solcher „Ungeist“ dürfe in der Gesellschaft nie wieder Platz finden: „Wir müssen unsere Lehren aus der Geschichte ziehen. Tun wir das nicht, machen wir uns auch schuldig.“ Monika Bunk, die stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Marburg, hob jedoch hervor, dass Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung und Diffamierung längst wieder zum Alltag gehörten. Sie hatte 18 antisemitische Fälle zusammengetragen, die sich im Landkreis Marburg-Biedenkopf beziehungsweise in einem Umkreis von maximal 100 Kilometern in diesem Jahr ereigneten. Von einer angedrohten Deportation eines anonymen Anrufers über die Schändung jüdischer Gedenkstätten bis hin zur zahlreichen Hakenkreuz-Schmierereien. Zwischen Januar und Juni habe es 401 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gegeben. Viele seien rechtsradikal motiviert gewesen – im Gegenteil dazu seien die Fälle muslimischen Antisemitismus verhältnismäßig wenige. Einschüchterung und Gewalt dürften nicht das Klima in Deutschland bestimmen, resümierte sie. Die Menschen sollten antreten für Toleranz und Gemeinsamkeit und ohne Angst verschieden sein dürfen.
Während der Gedenkveranstaltung zeigte Thomas Groll den Ausschnitt einer Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Dieser hatte sich im Mai 1985 als einer der Ersten mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges befasst und herausgestellt, dass das Naziregime die Menschen zu Werkzeugen des Hasses gegen das Judentum gemacht habe.
Festredner Professor Jürgen Reulecke fügte später hinzu, dass die tatsächliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Geschichte erst in den 1980er- und 1990er-Jahren begonnen habe. In den 1950er- Jahren sei die Restauration unter Kanzler Konrad Adenauer das prägende Thema gewesen – weder die Schuldfrage noch die Juden Verfolgung hätten eine Rolle gespielt.
Einzig eine kleine Gruppe im Kloster Altenberg habe sich damit auseinandergesetzt, doch scheinbar keine Beachtung erhalten.
Und auch in der Folge hätten die Menschen sich nicht mit der Geschichte des Dritten Reichs beschäftigt. Junge Bürger hätten sich nicht getraut, Eltern oder Großeltern Vorwürfe zu machen – und Heimat- und Geschichtsvereine sich mit anderen Zeiten als dem Dritten Reich auseinandergesetzt.
„In den 90er-Jahren entstand der Gedanke, sich mit Erinnerungskulturen auseinander- zusetzen“, betonte Reulecke, einst Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen und später an der Justus-Liebig-Universität Gießen Sprecher des Sonderforschungsbereiches „Erinnerungskulturen“. Zu dieser Thematik zitierte der heutige Bochumer den deutschen Schriftsteller Erich Kästner: „Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um. Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.“ Anschließend widmete er sich noch dem Begriff Heimat,- der mit den Nazis für viele Jahre nahezu in der Versenkung verschwunden war. Nun sei er wieder aufgetaucht – insbesondere in „rechtslastigen Kreisen“. Heimat stehe dort für „etwas, was gegenüber Ausländern verteidigt werden muss“. Eigentlich sei es aber eher ein subjektiver Wert, ein Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit, und die „unreflektierte Hinwendung“ berge Gefahren. Die Menschen sollten nicht auf Rückzug setzen, sondern gegenseitiges Verständnis zeigen.
„Wir können Zukunft nur gestalten, wenn wir die Erinnerung wachhalten“, lautete das Fazit Grolls, der zum Gedenken an die aus Neustadt vertriebenen Juden Steine vor einer Kerze platzierte. Es sei wichtig, sie zurück in die Stadt zu holen. „Dort, wo wir uns wohl fühlen, sollten wir auch die Offenheit haben, diejenigen, die zu uns kommen, aufzunehmen.“ Selbige müssten sich aber natürlich auch an die „Spielregeln halten“, die in der Gesellschaft gelten.
Die musikalische Gestaltung der Veranstaltung hatte Stefan Groll, der Fachbereichsleiter Musik der Martin-von-Tours- Schule (rundes Foto), übernommen. Er spielte „Hommage an Caprice Nr. 5“ und „Summertime“ von George Gershwin. Den verwunderten Besuchern erklärte er, warum er sich für ein Werk des bekannten Jazzpianisten entschieden hatte. Die Musikrichtung symbolisiere Lebensfreude, Freiheit und Toleranz: „Also durchweg positive Dinge.“ Und da Jazz im Deutschen Reich als entartete Musik gegolten habe, sei das Stück ei wunderbarer Kontrapunkt“.