Mehr als 100 Besucher bei Neustädter Gedenkveranstaltung zu Flucht und Vertreibung
Die Stadt Neustadt setzte ihre Reihe der Gedenkveranstaltungen zu besonderen Ereignissen zusammen mit dem Heimatkreis Schwerin/Warthe fort und widmete sich dem Thema „70 Jahre Flucht und Vertreibung“.
von Klaus Böttcher
Momberg. Mehr als 100 Besucher kamen zu der Gedenkveranstaltung in das Momberger Dorfgemeinschaftshaus, bei der an Flucht und Vertreibung von über 12 Millionen Menschen aus den damaligen deutschen Ostgebieten erinnert wurde. Neustadts Bürgermeister Thomas Groll sagte bei seiner Begrüßung, dass das 20. Jahrhundert von vielen großen Ereignissen glücklicher, aber auch schrecklicher Art geprägt gewesen sei. Die Stadt möchte mit den Veranstaltungen daran erinnern. „Wir müssen uns erinnern und uns der Geschichte stellen“, betonte er. Er sprach von den Erzählungen seiner Großeltern und folgerte: „Die Nachkriegszeit war gerade für die Heimatvertriebenen eine große Herausforderung, hatten sie doch alles verloren und mussten in einer fremden Umgebung neu anfangen.“
Dem pflichtete der Vorsitzende des Heimatkreises Schwerin/Warthe, Gerhard Schwarz, bei: „Man sollte die Gedenktage in der deutschen Geschichte beibehalten, und zwar nicht nur die freudigen Jubiläen.“ Er brachte in seinem Grußwort den Besuchern seine Heimat näher. Schwerin an der Warthe, einem Fluss so groß und so lang wie die Weser, war ein Landkreis mit 22 000 Einwohnern in Ostbrandenburg, nahe der polnischen Grenze. Er berichtete von den Gründen der Vertreibung, wie die Flüchtlinge nach Hessen kamen und wie sie hier aufgenommen wurden. Etwa 80 Flüchtlinge aus seiner Heimat seien nach Speckswinkel gekommen.
Er freue sich über derartige Veranstaltungen, denn die größte Vertreibung der Weltgeschichte dürfe nicht totgeschwiegen werden,
erklärte Siegbert Ortmann, der Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen in Hessen.
Er zählte die Ziele des Vertriebenenverbandes nach 70 Jahren auf: Das seien die Aktivitäten gegen das Vergessen der geschichtlichen Wahrheit, die Erinnerung und das Wachhalten der Kultur der Ostländer sowie der Einsatz für den intensiven Dialog mit den östlichen Nachbarländern.
Gespannt verfolgten die Besucher auch die Gedenkansprache des Weihbischofs em. Dr. h.c. Gerhard Pieschel. Er verstand es, die Besucher in seinen Bann zu ziehen. In lockerer und humorvoller Art erzählte er aus seiner Kindheit, die im damals tschechischen Mähren begann. Die Aussiedlung habe seine Familie zunächst nach Lauterbach und dann in ein kleines 200-Einwohner-Dorf im Vogelsberg geführt. Die Aufnahme bei den Bauern schilderte er – aus Kindersicht – so lebhaft und spannend, dass er seine Zuhörer trotz des ernsten Hintergrundes immer wieder zum Schmunzeln und gar zum Lachen brachte.
Der rüstige 81-Jährige packte seinen Fluchtkoffer aus und holte unter anderem Schlüsselbunde hervor. Die Schlüssel seien Hilfsmittel für ihn. Damit wolle er Zeitzeugen aufschließen, die Wichtigkeit der Erinnerung aufschließen. Er habe einen Schlüssel gegen den monströsen Chor der Verharmloser. Der Weihbischof spannte schließlich den Bogen von den Vertreibungen des 20. Jahrhunderts über eine biblische Geschichte, in der es um Vertreibung geht, bis hin zur heutigen Zeit. Pieschel erklärte, dass im vergangenen Jahr über 45 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen seien und meinte: „Warum haben wir heute Bauchschmerzen wegen der Flüchtlinge aus Afrika, wo vor 70 Jahren Millionen kamen?“
Das Trio „Semplice“ umrahmte die Veranstaltung musikalisch. Wilfred Sohn hatte die richtige Liedauswahl getroffen; bei dem Gesang von Heimatliedern aus den ehemaligen Ostgebieten von Karl-Joseph Lemmer und Michael Dippel sangen viele mit. Einige Teilnehmer hatten dabei Tränen in den Augen.