„Lass dir die Heimat nicht zur Fremde werden, aber die Fremde zur Heimat“
Gedenkveranstaltung „70 Jahre Flucht und Vertreibung“
Einen beeindruckenden Nachmittag erlebten über 100 Anwesende am 11. April 2015 im Dorfgemeinschaftshaus Momberg. Der Magistrat der Stadt Neustadt (Hessen) und der Heimatkreis Schwerin/Warthe hatten gemeinsam zur Gedenkveranstaltung „70 Jahre Flucht und Vertreibung“ eingeladen und diese unter ein Wort des Dichters Adalbert Stifter „Lass dir die Heimat nicht zur Fremde, aber die Fremde zur Heimat werden“ gestellt.
Die Initiative zu dieser Feierstunde war vom im vergangenen Jahr verstorbenen Bernhard Scheffler ausgegangen, der Ende Januar 1945 mit hunderten von Landsleuten einen Zug in seiner Heimatstadt bestieg, um vor der herannahenden Roten Armee zu fliehen. Am 2. Februar 1945 kam man seinerzeit im Marburger Land an und etwa 80 Schweriner fanden zunächst Aufnahme in Speckswinkel.
Bürgermeister Thomas Groll leitete seine Ansprache mit einem chinesischen Sprichwort ein: „Wer die Zukunft erforschen will, der muss die Vergangenheit kennen.“ Er verwies in der Folge u. a. darauf, dass unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkrieges fast 14 Mio. Deutsche aus ihrer angestammten Heimat in Mittel-, Südost- und Osteuropa vertrieben wurden und 2 Mio. Kinder, Frauen und Männer dabei den Tod fanden. „Diese Schattenseiten unserer Geschichte dürfen nicht vergessen werden. Wer an die Geschehnisse der Vertreibung erinnert, der ist wahrlich kein ewig Gestriger, sondern macht sich und anderen die wechselvolle Geschichte unserer Nation in ihrer Gesamtheit bewusst“, so der Bürgermeister.
Groll ging weiter darauf ein, dass auch seine Großeltern aus dem Sudetenland stammten und seine Mutter dort noch kurz vor Kriegsende geboren wurde. „Aus Opas und Omas Erzählungen wurden auch mir das Altvatergebirge oder das Heidebrünnlein gegenwärtig. Zudem erfuhr ich vieles über den schweren Neuanfang in Neustadt. Für diese Einblicke bin ich beiden heute noch dankbar.“
Zum Abschluss seiner Rede richtete Thomas Groll den Blick auf die bereits 1950 verabschiedete „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. In diesem beeindruckenden Dokument habe man sich für Versöhnung zwischen den Völkern ausgesprochen und das Bekenntnis zum Wiederaufbau Deutschlands und dem friedlichen Zusammenwachsen Europas abgelegt. Dieser Verpflichtung seien die Vertriebenen in den letzten Jahrzehnten gerecht geworden, stellte Bürgermeister Groll fest.
Der Vorsitzende des Heimatkreises Schwerin/Warthe, Regierungsdirektor a.D. Gerhard Schwarz, war aus Tübingen angereist und dankte der Stadt Neustadt (Hessen) und deren Bürgermeister für die Ausrichtung der Gedenkveranstaltung. Er stellte die in der östlichen Mark Brandenburg nahe Posen gelegene „alte Heimat“ näher vor und berichtete über die Geschehnisse der Vertreibung vor nunmehr 70 Jahren.
„Wir Vertriebene werden älter und leider auch weniger, aber es ist unsere Aufgabe, die jüngere Generation über die Ereignisse vor 70 Jahren zu unterrichten. Die Schicksale unserer Landsleute, aber auch die der Sudetendeutschen, Schlesier, Pommern, Ungarn oder Rumäniendeutschen dürfen nicht in Vergessenheit geraten.“
Gerhard Schwarz sprach auch darüber, dass der Heimatkreis seit Jahren regelmäßig eine Reise nach Schwerin/Warthe unternehme und es dabei immer wieder Zeugnisse der Versöhnung mit der polnischen Bevölkerung gebe.
Aus Lauterbach war der Landesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), Siegbert Ortmann, nach Momberg gekommen. Der langjährige Abgeordnete des Hessischen Landtages verwies in seinem Grußwort auf die drei Säulen, welche die Arbeit der Vertriebenenverbände heute kennzeichneten:
1. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung 1945/46.
2. Das Bestreben um den Erhalt des reichen kulturellen Erbes aus der angestammten Heimat und die Information darüber.
3. Das Erreichen eines guten Miteinanders unter den Völkern. Dabei, so Ortmann, sei man beispielsweise mit Polen weiter als mit Tschechien, wo es vielfach noch eine reservierte Haltung gebe. „Unser Blick muss nach vorne gerichtet sein. Wir müssen aus der Geschichte lernen“, schloss der BdV-Landesvorsitzende.
Die Gedenkansprache hielt der emeritierte Weihbischof Dr. h.c. Gerhard Pieschl aus Limburg.
Der 1934 im Sudetenland geborene Geistliche war von 1983-2009 Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge. Als er damals aus dem Amt schied wurde er in den Medien als „ein tatkräftiger Seelsorger mit Humor“ bezeichnet, der „das offene Wort nicht scheue“.
Zu Beginn seiner mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Ausführungen hielt Weihbischof em. Pieschl einen alten Koffer in die Höhe, den er von zu Hause mitgebracht hatte, und rief in den Saal, ob die Anwesenden dieses Utensil denn noch kennen würden?
Ein solcher Koffer sei für ihn auch heute noch „das“ Symbol für die Vertreibung schlechthin. In einen solchen Koffer hätte man 1945 in aller Eile sein Hab und Gut vor dem erzwungenen Aufbruch verstauen müssen.
Als Pieschl den Koffer öffnete, kam ein Schlüsselbund hervor. Mit diesen „erschloss“ er den Anwesenden die Jahre von Vertreibung und Neubeginn anhand seiner eigenen Lebensgeschichte. Von Mähren kam er damals in den Vogelsberg. „Einer Gegend, in der wir Vertriebenen nach über 400 Jahren die ersten Katholiken waren. Für viele Einheimische ein Kulturschock“, so Gerhard Pieschl milde lächelnd. Nach anfänglichen Schwierigkeiten habe man sich dann aber aneinander gewöhnt und gemeinsam den Wiederaufbau gestartet.
Der Weihbischof spannte in seinen Ausführungen den Bogen bis hin zur alttestamentarischen Geschichte des Josef. Auch dieser sei vertrieben worden und habe in der Fremde neu anfangen müssen. Später sei er dann in die alte Heimat zurückgekehrt und habe sich mit seinen Widersachern versöhnt.
Genauso sollten auch die Vertriebenen und deren Nachkommen handeln: Das Alte nicht vergessen, Neues wagen und zur Aussöhnung mit den Vertreibervölkern bereit sein.
In den anschließenden Gesprächen konnte man dann immer wieder erfahren, dass der Ehrengast den Anwesenden aus dem Herzen gesprochen hatte und sie seine Positionen teilten.
Zum Gelingen des Nachmittags trug wesentlich auch das Trio „Semplice“ bei. Willfred Sohn, Karl-Joseph Lemmer und Michael Dippel spielten zwischen den einzelnen Reden bekannte Weisen aus Schlesien, dem Sudetenland oder der Mark Brandenburg und die Gäste stimmten immer wieder in den begleitenden Gesang ein.
Zum Abschluss sang man gemeinsam die deutsche Nationalhymne.
Unter den Anwesenden waren auch Marlene und Horst Gömpel aus Schwalmstadt. Kürzlich erschien das von den Eheleuten verfasste Buch „…angekommen.“ Darin werden die Flucht aus dem Sudetenland und der Neuanfang in Nordhessen geschildert.
Bürgermeister Thomas Groll kündigte an, dass man im Laufe des Jahres zu einer Lesung mit dem Ehepaar Gömpel einladen werde, um das Thema „Flucht und Vertreibung“ weiter zu beleuchten. Auch verwies er auf die beiden weiteren Gedenkveranstaltungen des Jahres 2015:
7. Mai –
„ 70 Jahre Ende des II. Weltkrieges mit Ministerpräsident a.D. Erwin Teufel
14. Oktober –
„25 Jahre Deutsche Einheit“ mit Rainer Eppelmann, einem der bekanntesten Regimekritiker der DDR und deren letzten Verteidigungs- und Abrüstungsminister