Neustädter wollen an die vertriebenen, ermordeten und enteigneten jüdischen Mitbürgern erinnern
Den einen ist eine Tafel zu unpersönlich, den anderen ist es zuwider, auf Stolpersteine zu treten und damit quasi auf Schicksalen herumzutrampeln. Gedenken ja, nur wie? Das ist die Frage.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Die Pogromnacht fand in Neustadt vor 80 Jahren einen Tag früher statt als im Rest des damaligen Deutschen Reichs. Die Republikaner beziehungsweise inzwischen die AfD erhalten in der Stadt vergleichsweise überdurchschnittliche Ergebnisse. Beim Thema Rechtsextremismus „sind wir also besonders labil“, folgert Hans- Gerhard Gatzweiler. Umso wichtiger sei es, die Geschichte aufzuarbeiten und der vertriebenen, ermordeten und enteigneten jüdischen Mitbürger zu gedenken, ergänzt der SPD- Fraktionsvorsitzende.
„Für mich ist es selbstverständlich, auch 2018 wieder der Pogromnacht zu gedenken“, pflichtet ihm Bürgermeister Thomas Groll (CDU) bei. Die Zerstörung der Synagogen, die Entrechtung der jüdischen Mitbürger und deren millionenfache Ermordung in den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Deutschlands dürften auch dann nicht in Vergessenheit geraten, wenn die Tätergeneration nicht mehr lebe. „Der Religionsphilosoph Pinchas Lapide hat Recht, wenn er einst sagte, dass ein Volk, das seine Vergangenheit vergisst, dazu verdammt sei, sie zu wiederholen“, betont der Rathauschef. Zum einen plant er eine Gedenkveranstaltung zum 9. November, in die er die jüdische Gemeinde Marburg und, auf Anregung deren zweiter Vorsitzenden Monika Bunk, auch die Martin-von- Tours-Schule als „Schule gegen Rassismus“ einbinden möchte.
Zum anderen wollen er und seine kommunalpolitischen Mitstreiter in Neustadt eine dauerhafte Gedenkstätte schaffen.
Schon vor 30 Jahren habe es in Neustadt den Gedanken gegeben, eine Gedenktafel einzurichten, betont Gatzweiler und erinnert an eine Ausstellung, die Schüler damals zu den jüdischen Schicksalen in der NS-Zeit gestalteten. Während ihrer Recherche seien sie in der Stadt auf massive Widerstände gestoßen – ein Punkt, der ihn glauben lässt, dass auch heute noch einige Bürger sich gegen Stolpersteine aussprechen würden. Er jedenfalls ist für diese Art des Gedenkens – auch, weil die Häuser, die einst im Besitz vertriebener oder getöteten Juden waren, j heute anderen Eigentümern gehören als jenen, die einst die Gebäude bekamen. Und auch die Besonderheit, dass vor einigen Häusern die Bürgersteige den Anwohnern gehören, sieht er nicht als Problem: „Es sollten sich ja bei rund 100 Schicksalen wenigstens zehn finden, bei denen die Verlegung von Stolpersteinen problemlos geht.“
Ortsvorsteher Klaus Groll und der Ortsbeirat sprechen sich indes für eine Gedenktafel an einem zentralen Ort in Neustadt aus. Das Gremium hat den Marktplatz im Blick und würde ein Gedenken vorziehen, bei dem keine Namen genannt werden: „Zu leicht würde ein Schicksal vergessen“, erläutert er und spricht sich gegen Stolpersteine aus, da er nicht „mit Füßen auf Schicksalen herumtrampeln“ wolle.
Diesen Punkt führt auch Bürgermeister Thomas Groll an, der sich noch nicht sicher ist, für welche Form des Gedenkens er letztendlich ist. Er erwähnt in diesem Zusammenhang vier Punkte: Die Art der Erinnerung müsse „würdig“ sein und sie solle an zentraler Stelle stattfinden und nicht abseits, schließlich hätten die jüdischen Mitbürger auch „inmitten unserer Kommune gelebt“. Noch dazu müsse es eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik geben und „die Erinnerung an 80 Jahre Pogromnacht sollte von der breiten Stadtgesellschaft mitgetragen werden und keinen Streit und Ablehnung hervorrufen“. Eine Idee Grolls, die unterschiedlichen Ansätze zusammenzuführen: Am Marktplatz eine Tafel in den Boden einlassen und drumherum mit Stolpersteinen ergänzen; und in naher Zukunft auch in Momberg eine Gedenkstätte schaffen.
In den Haushaltsplanentwurf, der am Montag (20 Uhr, Zollhof in Speckswinkel) während der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung kommt, hat der Kämmerer 3 000 Euro eingestellt. Für Gatzweiler ein Anfang. Geht es nach ihm, könnte die Stadt „immer, wenn wieder etwas Geld da ist“, den Künstler Gunter Demnig engagieren, um weitere Stolpersteine zu verlegen. Vorteil sei, dass es so ein „regelmäßiges Gedenken“ gebe. Aber auch eine Gedenktafel würde den Sozialdemokraten notfalls zufriedenstellen: „Das wäre besser als nichts. Es gibt immer noch massive Widerstände – daher müssen .wir das Thema aufgreifen.“