Belegung der Erstaufnahmeeinrichtung steigt von 800 auf 1100 Rotes Kreuz leitet Camp in Stadallendorf
Das Regierungspräsidium erhöht die Belegungszahl der Erstaufnahmeeinrichtung in Neustadt um 300 auf 1100 Menschen – aufgrund der unerwartet hohen Anzahl an Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Immer wieder mahnte Thomas Groll in den vergangenen Wochen und Monaten die Obergrenze von 800 Menschen an. Gestern oblag es ihm mitzuteilen, dass 300 Flüchtlinge aus dem Camp in Stadtallendorf in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Neustadt wechseln werden. „Die Humanität gebietet es, diese Möglichkeit einer Zelt oder auch Containerunterbringung vorzuziehen“, sagt er und verweist darauf, dass in der ehemaligen Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne vernünftige Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden und die notwendige Infrastruktur vorhanden sei.
Natürlich hätten Land und Regierungspräsidium betont, dass maximal 800 Flüchtlinge in die Erstaufnahmeeinrichtung kämen, so Groll. Als diese Zahl beschieden worden sei, ging man allerdings noch davon aus, dass im Jahr 2015 rund 300 000 Flüchtlinge nach Deutschland kämen – und nicht die inzwischen realistischen eine Million. „Die Schaffung von winterfesten Unterkünften kann mit dieser Entwicklung naturgemäß nicht Schritt halten“, resümiert Groll und betont: „Das Land hätte auch einfach festlegen können, dass mehr Flüchtlinge nach Neustadt kommen. Ich begrüße, dass wir gefragt und um eine Einschätzung gebeten worden sind.“ Gleichzeitig äußert er die Erwartung, dass vornehmlich Frauen mit Kindern oder Familien in die Unterkunft nach Neustadt kommen. Zudem erneuert er die Forderung nach einer Erhöhung der Polizeipräsenz, erwartet eine Art Gegenleistung des Landes für das „verantwortungsvolle Handeln der Neustädter“ und eine verstärkte
Suche nach anderen Unterbringungsmöglichkeiten.
Beim Flüchtlingscamp in Stadtallendorf ist seit Sonntagabend das Regierungspräsidium Gießen verantwortlich – das wiederum sofort das Deutsche Rote Kreuz Marburg als Betreiber einsetzte. „Natürlich ist das eine Riesenaufgabe für uns, aber wir haben keine Angst davor“, kommentierte dessen Geschäftsführer Christian Betz gestern auf Anfrage dieser Zeitung. Die Flüchtlingshilfe gehöre laut Satzung in den Tätigkeitsbereich des Roten Kreuzes: „Ich sehe sie als eine unserer primären Aufgaben an“, betonte er.
Bisher kümmerte sich das DRK Marburg und Gießen bei den Erstaufnahmeeinrichtungen in Neustadt, Marburg und Gießen um die Notfallambulanzen. Nun folgen die Marburger dem Beispiel aus Bensheim, wo das DRK bereits als Betreiber der Flüchtlingseinrichtung tätig ist. „Für ein kleines Mauerblümchen, als das wir gefühlt betrachtet wurden, sind das natürlich dicke Bretter, die es zu bohren gilt“, gibt Betz zu, betont aber, dass er äußerst zuversichtlich sei.
Das Wochenende über hätten Mitarbeiter in Stadtallendorf bereits Gespräche geführt. Mitglieder der künftigen Verwaltung und das zweiköpfige Interims-Leitungsteam seien schon vor Ort – letzteres bestehe aus einem Mann, der bereits eine Flüchtlingsunterkunft während der Kosovo-Krise leitete, und einer Frau, die ein Studium der Wirtschaftspädagogik abgeschlossen hat und sich ehrenamtlich im Flüchtlingscamp in Kassel-Calden engagiert, wo sie Deutschunterricht gibt und sich um die Kinder kümmert. Mittwochmorgen will das DRK mit der Verwaltung loslegen. „Wichtig ist, dass wir uns jetzt erstmal einen Überblick erarbeiten“, gibt Betz als Ziel aus: „Außerdem werden wir feldmäßig Strukturen erarbeiten.“
Das Regierungspräsidium fungiert, wie Sprecherin Ina Veite mitteilt, als Koordinator, um die Verpflegung im Camp kümmert sich weiterhin die Bundeswehr. Das DRK muss sich aber auch um Dinge kümmern wie Sicherheit oder Reinigung – genauer gesagt darum, an wen die entsprechenden Aufträge vergeben werden. Der Betreiber selber will ein Hauptaugenmerk auf die medizinische und soziale Versorgung legen. Bei der Sozialbetreuung sei ein Vorteil, dass bei ihnen ein Verantwortlicher auf 80 Flüchtlinge komme und nicht auf 100 oder noch mehr, so Betz. Zudem wird sich das DRK um die niederschwellige Beratung bei Asylanträgen kümmern – ansonsten bleibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortlich.
15,5 Stellen – die wahrscheinlich von rund 25 Personen besetzt werden – plant das DRK Marburg für das Stadtallendorfer Camp ein und sucht entsprechend nach Diplom-Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, Sozialpädagogischen Assistenten und Sozialassistenten. Das Regierungspräsidium hat die Marburger zunächst für ein Jahr beauftragt.
Ein wichtiger Schritt in Sachen Infrastruktur wird der Umzug der Flüchtlinge – also derer, die nicht nach Neustadt wechseln – aus Zelten in fünf Containerstandorte sein. Wann genau das stattfindet, steht noch nicht fest. Bis November, sagt Betz und freut sich auf die Zukunft. Den Standort auf dem früheren Mobilmachungs-Stützpunkt findet er schließlich „toll“: „Das ist ein schöner Ort – abseits aber auch zentral.“
Derweil sind die Ehrenamtler des Katastrophenschutzes abgezogen. Rund 800 waren in der vergangenen Woche beim größten Einsatz seit der Hochwasserkatastrophe 1984 aktiv, wie Kreissprecher Stephan Schienbein betont. „Wir haben die Aufgabe gut gemeistert. Es gab keine Zwischenfälle, keine Konflikte und die Stimmung bei den Bewohnern des Camps ist gut“, freut er sich. Die außergewöhnliche Zeit habe aber auch gezeigt, dass eine solche Extremsituation ad hoc nur mit den organisierten Kräften des Katastrophenschutzes zu meistern sei. Ein „fettes Lob“ sprach er gleichzeitig aber auch der Bundeswehr aus, ohne deren Unterstützung es nicht zu meistern gewesen wäre, und den Freiwilligen, die sich lokal zum Beispiel über die Kleidersammlung engagierten.
Standpunkt von Florian Lerchbacher:
In Neustadt wird mit Sicherheit die ein oder andere Stimme laut und sagen: „Ich habe es schon immer gewusst.“
Und tatsächlich: Es bleibt nicht bei 800 Flüchtlingen in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE). 300 weitere finden in der ehemaligen Kaserne Unterschlupf. Doch wer hätte vor einem halben Jahr ahnen können, wie viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen? Niemand! Fakt ist: Die Menschen sind nach Deutschland gekommen, um hier Schutz zu finden. Wir sollten ihn diesen bieten – auch bei der Unterbringung. Wer will in der kalten, nassen Zeit schon in einem Zelt oder einem Container leben? Die Entscheidung, die EAE zu erweitern, mag vielleicht dem Bruch eines Versprechens gleichkommen – aber das geschah aus Gründen der Menschlichkeit.