Soldaten helfen mit Zahnpasta und Windeln

 

Mehrere hundert Übersiedler aus der DDR kamen wenige Tage nach dem Mauerfall in die damalige Neustädter Kaserne

Wenige Tage vor dem Fall der Mauer bekam die Bundeswehr in Neustadt den Befehl, sich auf die Ankunft von Übersiedlern aus der DDR vorzubereiten.

von Michael Rinde

Neustadt. In den für sie gedachten Erstaufnahme-Einrichtungen gab es für DDR-Übersiedler im Oktober 1989 keinen Platz mehr. Zu viele DDR-Bürger wählten bereits vor dem Mauerfall die Wege über Ungarn, um in die Freiheit zu gelangen. Zusätzlicher Platz musste her, um den Menschen erste Anlaufpunkte im Westen Deutschlands geben zu können.

Eine solche Anlaufstelle war die Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne in Neustadt. Anfang November muss der Befehl aus dem Bonner Verteidigungsministerium eingegangen sein. Das damalige Panzergrenadierbataillon 142 bekam den Auftrag, in zwei Kasernengebäuden Platz zu schaffen. Wann genau die ersten Übersiedler in Neustadt eintreffen sollten und wie viele es zunächst sein könnten, das wusste zu jenem Zeitpunkt noch keiner, wie sich Zeitzeugen erinnern.

Der damalige Oberleutnant Gerhard Steuber war Derjenige, der sich im Auftrag der Panzerbrigade 14 „Hessischer Löwe“ um die Organisation kümmern sollte. „Ich war Concierge eines Hotels“, erinnert sich Steuber, der damals schon in Neustadt zu Hause war. Gemeinsam mit allen beteiligten Soldaten hatte er sehr viel Arbeit vor sich. Beide Unterkunftsgebäude mussten in kurzer Zeit geräumt werden. Die Wehrpflichtigen schliefen fortan zu 30 Mann in Speiseräumen. Ein Murren darüber hat der damalige Stabsoffizier aber nicht gehört. In den Kellern lagerten innerhalb weniger Tage große Mengen Verpflegung aller Art für die Neuankömmlinge aus der DDR: von Windeln über Zahnpasta bis hin zu Konserven. „Unsere Mutter der Kompanie, der Spies Klaus Fallatik, hatte das alles damals organisiert“, sagt Steuber. Der Bundesgrenzschutz und das Rote Kreuz waren eng eingebunden und in der Kaserne vertreten.

Zuerst kamen 95 Übersiedler an

Es dauerte aber dann doch einige Tage länger, bis die ersten Übersiedler tatsächlich in Neustadt vor dem Kasernentor standen. Am 14. November, also fünf Tage nach Fall der Mauer, kamen die ersten 95 DDR-Bürger gegen neun Uhr morgens an.

„Erschöpft, aber glücklich ließen sie die Aufnahmeprozedur über sich ergehen“, berichtete die OP seinerzeit. Für die Übersiedler gab es einen kleinen Im-biss in der Turnhalle, bevor ihnen die Soldaten ihre Stuben zuwiesen. Die Panzergrenadiere hatten sich darauf eingerichtet, sowohl für Familien als auch Alleinreisende passende Stuben vorzubereiten. „Am Ende waren es bei uns aber vor allem Familien, die zu uns kamen“, sagt Steuber im Rückblick. Sie bekamen jene 50 D-Mark „Friedlandhilfe“ vom DRK und Hygieneartikel.

Von Anfang an war klar, dass die Übersiedler nur ein bis zwei Tage in den Kasernenbetten schlafen sollten. Dann sollten sie in ihre eigentlichen Übergangsquartiere wechseln. Zu den Ersten, die in Neustadt ankamen, gehörte an jenem 14. November Jürgen Ulbrich mit seiner Frau und dem sechs Monate alten Sohn Norman. Sie waren am Abend des 13. November, einem Montag, um 20.30 Uhr in Dresden in den Zug gestiegen, bis Bebra gereist und von dort per Bus nach Neustadt weitergefahren worden. Die Ulbrichs hatten nach dem Mauerfall bis zuletzt Zweifel, ob sie wirklich die DDR verlassen dürfen – bei aller Freude über den Mauerfall. „Es war schon ein kribbeliges Gefühl“, sagte Ulbrich vor 25 Jahren gegenüber der OP.

Bis zum Abend des 17. November 1989 kamen 600 Übersiedler allein in der Neustädter Kaserne an. In den wenigen Stunden ihres Aufenthaltes durften sie sich auf dem Gelände und in der gesamten Umgebung frei bewegen. Dafür bekamen die Zivilisten Kasernenausweise.

Einigen gefiel das, was sie sahen und erlebten, so gut, dass sie sich zum Bleiben entschlossen. Dabei halfen ihnen ebenfalls die Neustädter Soldaten. Nach Dienstschluss begannen sie, gemeinsam mit den Familien nach Wohnungen in Neustadt und Umgebung zu suchen. Meist hatten sie Glück und fanden Passendes. Dort zeigte sich die Solidarität der Menschen in der Region. Steubers Erinnerung nach waren es rund zehn Familien, die zunächst im Landkreis Marburg-Biedenkopf heimisch werden wollten. Zu einer hat der inzwischen pensionierte Offizier heute noch guten Kontakt.

Nach dem großen Andrang der ersten Tage wurden es immer weniger Übersiedler, für die die Soldaten des Panzergrenadierbataillons die ersten „Gastgeber“ waren. „Anfang Dezember waren es vielleicht noch 40 bis 50, die sich in der Kaserne aufhielten“, sagt Steuber. Er selbst organisierte eine Nikolausfeier für die kleinen Gäste, der Offizier spielte damals den Knecht Ruprecht.