Neue Rechtslage, höhere Belegung

Derzeit leben 513 Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung in Neustadt • Die meisten kommen aus Türkei
Fünf Jahre ist es her, dass das Regierungspräsidium die Stadt Neustadt über ihren Plan informierte, die J ehemalige Ernst-Moritz- Arndt-Kaserne zur Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge zu machen.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Zu Spitzenzeiten lebten mehr als 1 100 Menschen in der Erstaufnahmeeinrichtung | (EAE), zwischenzeitlich waren es aber auch mal nur knapp über 100 Flüchtlinge. Derzeit I wohnen 513 Menschen – der | Großteil stammt aus der Tür- 1 kei – in der ehemaligen Kaserne.
Die gestiegene Zahl habe aber nichts damit zu tun, dass derzeit wieder vermehrt Menschen nach Deutschland kämen und auf Asyl hofften, betont Manfred Becker, der Leiter der Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten, Erstaufnahmeeinrichtungen und Integration beim Regierungspräsidium in Gießen. Der Grund sei viel eher eine zum 1. September eingetretene Gesetzesänderung, nach der Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen, bis zur Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BaMF) in der Erstaufnahmeeinrichtung leben müssen. Seien beispielsweise Familien einst nach vier bis sechs Wochen den Kommunen zugewiesen worden, so müssten sie inzwischen bis zu drei Monaten warten.
Einrichtung wirkte sich positiv auf Finanzen aus
Neustadts Bürgermeister Thomas Groll hätte gerne, dass künftig nicht mehr als 600 Flüchtlinge in der EAE untergebracht werden – ein Wunsch, den ihm Becker gerne erfüllen will, dies aber aufgrund der Zuwanderungs-Dynamik nicht kann, wie er sagt. Eine vierstellige Flüchtlingszahl sei einer Stadt wie Neustadt, in deren Kernstadt rund 6000 Menschen leben, jedenfalls nicht mehr zumutbar, so Groll, der noch einmal daran erinnert, einst keine Wahl gehabt zu haben. Kein Bürgermeister und auch kein Landrat hätten das Land vor fünf Jahren aufhalten können, an selbst ausgewählten Orten EAEs einzurichten, wirft Becker ein.
Sie hatten kein Mitspracherecht bei der Standortwahl gehabt, und die stillgelegte Neustädter Kaserne sei einfach zu gut für die Unterbringung von Flüchtlingen geeignet gewesen: Alleine schon der gute Zustand der Kantine sei ein wichtiger Grund gewesen, so Becker: Es habe weder viel gekostet noch lange gedauert, um aus der ehemaligen Kaserne eine funktionstüchtige EAE zu machen.
„Wir stehen als Kleinstadt mit der Fünf-Jahres-Herausforderung gut da“, lautet Grolls Zwischenbilanz. Dem Rathauschef ist wichtig, dass die Stadt von der EAE auch profitiert habe. Ohne sie wäre Neustadt nicht im Förderprogramm „Soziale Stadt“, hätte die Ochsenwiese nicht in einen Kunstrasenplatz umwandeln können und würde nicht über gestiegene Schlüsselzuweisungen verfügen, die sie in die Lage versetzten, Kassenkredite abzubauen und somit von der Hessenkasse profitieren zu können. Von zusätzlichen Arbeitsplätzen ganz zu schweigen.
Gebetsmühlenartig appelliert Groll an seine Mitmenschen, objektiv zu sein. Die Statistik zeige, dass in Neustadt während
des Hochs der Flüchtlingswelle in den Jahren 2015 / 2016 die Zahl der Ladendiebstähle gestiegen sei, inzwischen die Zahl aber unter den Landesdurchschnitt gesunken sei. „Natürlich ist jeder Fall für die Eigentümer und Verkäufer schlimm – aber man muss es eben im Gesamtkontext sehen. Das gilt auch für Raubüberfälle.“ Jeder Fall sei für den Betroffenen eine Qual – aber im Vergleich sei es in Neustadt eher ruhig.
Becker: „Jedes strafbare Verhalten führt zur Anzeige“
„Klar ist aber auch, dass wir jedem Vergehen nachgehen. Es gilt null Toleranz. Jedes strafbare Verhalten der EAE-Bewohner führt zur Anzeige. Wir schlagen bei den Ankommenden sozusagen gleich einmal einen Pflock ein“, ergänzt Becker.
Um das Sicherheitsempfinden der Neustädter zu steigern, will die Stadt noch einige – von Bürgern als solche erkannte – „Unsicherheitsräume“ angehen: Im Park soll es Veränderungen geben, die Beleuchtung der Straßen rund um den Bahnhof verbessert und die Unterführung freundlicher gestaltet werden.
Für den letztgenannten Punkt will die Stadt 30 000 Euro in die Hand nehmen, während RMW und Bahn 70 000 Euro zahlen, berichtet Groll, der außerdem noch die Fortführung der Gemeinwesenarbeit plant und auch weiterhin den „Schutzmann vor Ort“ auf der Agenda hat.
In diesem Zusammenhang hält es der Rathauschef auch für notwendig, beim Umgang mit Flüchtlingen anders vorzugehen: Er regt an, sie sollten nach der Zeit in der EAE nicht in Wohnheimen, sondern direkt in eigenen Wohnungen untergebracht werden. In der EAE gebe es eine Sozialbetreuung und eine Tagesstruktur – danach aber nicht, was zu einer gewissen Orientierungslosigkeit führe. „Keine Ghettobildung“, fasst Becker kurz zusammen und erklärt: Eine Flüchtlingsfamilie, die in eine Wohnung ziehe und sich „einigermaßen benimmt“, werde rasch von den Nachbarn aufgenommen und ein bisschen geführt. In ein Wohnheim gehe „außer ein paar Idealisten“ aber kaum jemand freiwillig. Insofern seien eigene Wohnungen wichtig für die Integration in der Gesellschaft.
Auch er hat einen Wunsch für die Zukunft der Neustädter EAE, deren Infrastruktur Stück für Stück ausgebaut wurde, beispielsweise mit einer Betreuungseinrichtung für Kinder, einem Fitnessraum, aber auch einer Außenstelle des BaMF: In ‚den Brandschutz müsse weiter investiert werden, vor allem sei aber der Bau eines neuen, großen Spielplatzes angezeigt.
Stadt hat ein Problem mit Südosteuropäern
Während des Gesprächs über die EAE berichtete Groll, dass es in der Stadt ein Problem mit Südosteuropäern – vornehmlich Bulgaren und Rumänen – gebe, die sich Häuser gekauft haben. Es gelte, ihnen zu vermitteln, dass in Deutschland bestimmte Verhaltensregeln unumstößlich seien. Als Beispiele nennt er, dass Kinder regelmäßig in die Schule gehen müssen, Müll getrennt wird und nach 22 Uhr Nachtruhe gilt: „Ich weiß, das hat nichts mit der EAE zu tun, aber das ist auch eine besondere Herausforderung. Die Bürger Neustadts sollen wissen, dass wir uns der Problematik bewusst sind und uns ihrer annehmen.“