„Der heutige Vorstand hat keinen Bezug mehr zur SPD-Gründungszeit“

Professorin Brigitte Seebacher, frühere Frau von Willy Brandt, sprach in Neustadt über die Sozialdemokratie
Von Florian Lerchbacher
Neustadt. Die SPD feiert derzeit ihr 160-jähriges Bestehen. Doch eigentlich hat die Partei kaum noch etwas mit dem zu tun, was 1863 im Fokus stand – meint zumindest Professorin Brigitte Seebacher, die von 1983 bis zu dessen Tod im Jahr 1992 mit Altbundeskanzler Willy Brandt verheiratet war. „Der heutige Vorstand hat keinen Bezug mehr zur SPD-Gründungszeit“, sagte sie am Mittwochabend, als sie zu Gast im Kultur- und Bürgerzentrum in Neustadt war und vor rund 100 Gästen mit Bürgermeister Thomas Groll über ihr in diesem Monat erschienenes Buch „Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied – zur Geschichte der Sozialdemokratie“ sprach.

Vernichtendes Urteil zu Lafontaine und Schröder

Für sie hatte dieser „Abschied“ schon rund um das Jahr 1968 begonnen: „Als sich die Arbeiterklasse auflöste, musste der Zusammenhalt in der Partei zerbrechen“, sagte sie und erinnerte daran, dass der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ – quasi der Vorgänger der SPD – vor 160 Jahren gegründet wurde, damit die Arbeiter in der Industriegesellschaft für ihre Rechte und „gegen die Ausbeutung“ eintreten können. „Um etwas durchzusetzen, mussten sie sich zusammenschließen. Daraus erwuchs der Begriff der Solidarität“, sagte Seebacher und ergänzte: „Mit der Zeit verändert sich das soziale Gefüge – so auch in der Partei.“

Ab Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre habe statt der Arbeiterklasse eher das Bürgertum insgesamt im Fokus gestanden. Aber 1998, als Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine die Wahl gewannen, ging es doch wieder bergauf“, warf Groll ein – was Seebacher zu einem vernichtenden Urteil animierte. Lafontaine habe oft seine Meinung gewechselt und Schröder nur das Ziel gehabt, die Wahl zu gewinnen. Besonders schlimm ist für sie allerdings, dass beide gegen die Deutsche Einheit gewesen seien.

Die Frage sei damals eigentlich nicht gewesen, ob die Einheit gewollt ist, sondern vielmehr, ob Selbstbestimmung gewünscht sei, zitierte sie Willy Brandt und fragte: „Wie kann eine demokratische Partei denn gegen Selbstbestimmung sein?“ Mit dieser Einstellung seien die beiden Männer für sie nicht mehr als Sozialdemokraten bezeichenbar gewesen.

Im Laufe des Gesprächs schlug Seebacher auch noch den Bogen zu aktuellen Geschehnissen. Wieder erinnerte sie an Brandt, der als eine der Grundlagen der Ost-Politik den Gewaltverzicht bezeichnete: „Das hat Russland jetzt zerstört“, erklärte sie mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Mit der Einheit schloss sich der Kreis des Lebens

Immer zwischendurch gab Seebacher auch klitzekleine Einblicke ins Leben mit Willy Brandt. Am eindrucksvollsten war dabei ihre Schilderung vom Tag des Mauerfalls im Jahr 1989. Morgens um 5 Uhr seien die beiden von einem Reporter aus dem Bett geklingelt worden, der ihren Mann befragen wollte. „Eigentlich war er ein Typ, der nicht so gut aus dem Bett kam. Aber an dem Tag war es anders. Wie selbstverständlich gab er ein Interview – und hatte am Ende des Gesprächs ein breites, feines Lächeln im Gesicht.“ Wenige Stunden später sprach er dann seine berühmten Worte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“

Und dann verriet die Historikerin, Journalistin und Publizistin auch noch, dass die Deutsche Einheit der wahrscheinlich wichtigste Moment im politischen Leben Brandts gewesen sei: „Weil sie den Bogen schlug zu der Zeit um das Jahr 1936 in Berlin, als er im Untergrund Arbeit für seine kleine Partei machte. Mit der Einheit schloss sich der Kreis seines Lebens.“

Die nächste Veranstaltung dieser Reihe findet am Montag, 19. Juni, statt. Dann spricht Volker Bouffier, der ehemalige Ministerpräsident, über „Erinnerung an den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR“.