Eine „Liebesheirat“ war es nicht

220 Besucher bei Festakt in Neustadt zur Gebietsreform / Fischbach hielt zentrale Rede
Von Michael Rinde

Neustadt.
Es war beides, ein weiterer Beitrag aus der so beliebten zeitgeschichtlichen Veranstaltungsreihe und ein Festakt zum Thema „50 Jahre Gebietsreform“. Neustadt mit seinen Stadtteilen Momberg, Speckswinkel und Mengsberg existiert in dieser Form erst seit der Gebietsreform und feiert quasi „Geburtstag“.
Es kamen 220 Teilnehmer in das Kultur- und Bürgerzentrum, darunter viele Neustädter Bürger und eigens eingeladene Ehrengäste, wie etwa ehemalige Mitarbeiter der Stadt, Altbürgermeister Manfred Hoim oder Frauen und Männer der ersten Stunden der Gebietsreform aus Politik und Gesellschaft.

Angst vor „Sozialismus“

Musikalisch ging es mit Fünft- und Sechstklässlern in den mehr als zweistündigen Festakt, der kurzweilig, informativ und unterhaltsam ausfiel. Mit Gesang und Tanz unterhielten Schülerinnen und Schüler der Martin-von-Tours-Schule, bevor Sängerin Ulla Keller übernahm. Und die gab sich bei ihrer Liedauswahl sehr international und professionell wie gewohnt. Keller musste nach mehreren Gesangsblöcken im Laufe des Abends noch einige Zugaben geben, so begeistert war ihr Neustädter Publikum.

Es geschah zum 1. Januar 1974, dass die einst selbstständigen Gemeinden Mengsberg, Momberg und Speckswinkel in Neustadt aufgingen, und es waren keineswegs Liebesheiraten. Die aktuellen Ortsvorsteher der drei Stadtteile lasen Auszüge aus den Grußworten der damaligen Gemeinden kurz vor dem Jahreswechsel 1973/1974 vor.

Das aus Speckswinkel erschien einige Wochen später und war am deutlichsten formuliert, geschrieben vom Bürgermeister a. D. Heinrich Naumann. Für ihn war die zwangsweise Eingliederung „Vorbote einer sozialistischen Diktatur“. Der aktuelle Ortsvorsteher von Speckswinkel, Martin Naumann, ist sein Enkel. Er erinnerte an die besondere Stimmung, wenige Monate vor der Gebietsreform habe Speckswinkel eine Jahrhundertfeier gefeiert. In Mengsberg war der Blick positiv nach vorne gerichtet, aber vor 50 Jahren war dort auch die Rede von einer ganz neuen Epoche. So schrieb der Bürgermeister Wilhelm Kräling, wie Ortsvorsteher Karlheinz Kurz vorlas. Die Rede ist auch davon, dass dies eines Tages zum Besten der Gemeinde sein werde.

Finanzielle Freiheit

Für Ortsvorsteher Kurz war es das auch, er dankte Neustadt für die Zusammenarbeit über Jahrzehnte und vor allem dem aktuellen Bürgermeister Thomas Groll. Die Momberger wiederum hatten 1973/1974 schon angekündigt, dass sie „ein eigenes Instrument im Konzert der Großgemeinde“ spielen wollten, ausdrücklich aber im Zusammenspiel mit allen anderen, wie Ortsvorsteher Jörg Grasse die Worte von Hugo Groß, dem letzten Momberger Bürgermeister, zusammenfasste.

Es gab zwei zentrale Reden beim Festakt. Bürgermeister Groll blickte mehr nach vorne als zurück. Sein Fazit: „Wir sollten dankbar rückwärts und mutig vorwärts schauen“. Er formulierte aber auch klare Forderungen für den weiteren Weg der Stadt Neustadt wie auch aller anderen hessischen Kommunen, vor allem finanziell. Wieder plädierte er, auf komplexe Förderprogramme zu verzichten und lieber die Städte und Gemeinden gut finanziell auszustatten. „Wir brauchen die Freiheit, selbst zu entscheiden“, so sein zentraler Satz. Und es braucht aus seiner Sicht auch weiterhin zahlreiche Frauen und Männer, die sich ehrenamtlich engagieren. „Ohne sie wird es nichts werden“, bemerkte er.

Torschlusspanik

Die zentrale Festrede hielt schließlich der frühere Landrat Robert Fischbach, der eher auf das Große und Ganze der Gebietsreform schaute. So erinnerte er daran, dass die Gebietsreform im Vorfeld dazu führte, dass sich auch die Parteienlandschaften veränderten. Ein Beispiel: Aus vielen Bürgerlisten entstanden im Hinterland, damals Kreis Biedenkopf, CDU-Ortsverbände. „Und es gab auch eine gewisse Torschlusspanik in den Dörfern“, blickt er zurück und zeigt, wie viel die Gebietsreform seinerzeit anstieß. Manches Bürgerhaus sei noch sehr schnell entstanden und ebenso manches Prestigeprojekt noch umgesetzt worden. Die Hinterlandhalle sei ein Beispiel. Als „Gegengewicht“ entstand dann im Ostkreis nach der Reform die Herrenwaldhalle in Stadtallendorf.

Robert Fischbach war von 1996 bis 2014 Landrat im Kreis Marburg-Biedenkopf, war Präsident des Deutschen Landkreistages und der erste direktgewählte Landrat seinerzeit im Kreisgebiet.

Eine „Missgeburt“

Kritisch sieht Fischbach die Lösung für die Stadt Marburg, einstmals kreisfreie Stadt, dann Sonderstatus-Stadt mit sechs weiteren hessischen Kommunen. Sie zahlt die Hälfte der Kreisumlage, erledigt viele Aufgaben in Eigenständigkeit, ist aber doch kreisangehörig, auch wenn ihre Aufsichtsbehörde der Regierungspräsident ist. Für Fischbach ist die damalige Lösung eine formale Missgeburt gewesen. „Wir feiern, weil wir diese Gebietsreform heute gut finden“, sagte Fischbach. Er könne die Stadt Marburg verstehen, wenn sie nicht feiere, denn sie habe ihre Kreisfreiheit verloren.