Neustädter wollen sich mit dem jüdischen Leben damals und heute auseinandersetzen
„Mehr war nicht zu erreichen“, kommentiert Hans- Gerhard Gatzweiler (SPD) einen gemeinsamen Antrag der drei Neustädter Fraktionen, der am Montag während der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung kommt.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Seit mehreren Monaten setzen sich Neustadts Stadtverordnete auf Initiative der Sozialdemokraten mit dem Thema Gedenken auseinander. Die Fraktion um Hans-Gerhard Gatzweiler wollte, dass Künstler Gunter Demnig in der Junker-Hansen-Stadt Stolpersteine vor den Häusern vertriebener oder ermordeter ehemaliger jüdischer Mitbürger verlegt – ein Ansinnen, mit dem sie zwar nicht auf taube Ohren stießen, wohl aber vorerst scheiterten.
Stattdessen einigten sich die drei Fraktionen auf einen gemeinsamen Antrag, den sie am Montag (19.45 Uhr, historisches Rathaus) einbringen und dann über ihn entscheiden – aller Voraussicht nach fällt die Abstimmung einstimmig dafür aus.
Der Titel lautet „Erinnerungskultur ist heute wichtiger denn je“. Damit wollen sich die Stadtverordneten als Vertreter der Bürger zur „Verantwortung der Kommune gegenüber der deutschen Geschichte“ bekennen. Eine zentrale Botschaft: Die Neustädter wollen im Zuge der 80. Wiederkehr der Pogromnacht „inmitten der Stadt“ – unter Umständen auf dem neu zu “ gestaltenden Rathausplatz – ein Denkmal errichten, um an die ehemaligen jüdischen Mitbürger zu erinnern. CDU und FWG hätten eine Tafel als Form der Erinnerung den Stolpersteinen vorgezogen, berichtet Gatzweiler und ergänzt: „Die Vertreter der jüdischen Gemeinde Marburg sagten im Gespräch mit uns jedoch, dass dies nicht das Wahre sei. Tafeln seien abgedroschen, werden nicht beachtet und regen nicht zur Kommunikation und dem Gedenken an.“ Sie hätten kleine Kammern vorgeschlagen, in denen Menschen Zettel mit ihren Sichtweisen hinterlassen können, die regelmäßig gelesen werden: „Dann beschäftigen sich die Bürger mit der Geschichte – und die Gedenkstätte lebt“, erläutert Gatzweiler. Die Neustädter denken über eine Basalt-Installation nach. „Das war der Kompromiss, auf den wir uns einigen konnten. Aber: Das schließt ja nicht aus, dass wir eines Tages doch noch Stolpersteine bekommen. Wir als SPD werden weiter darauf hinarbeiten.“ „Ebenso wie in Kirchhain brannte in Neustadt auch schon einen Tag vor dem 9. November 1938 die Synagoge“, erinnert Bürgermeister Thomas Groll an die Grauen der Reichspogromnacht. Entsprechend wollen die Neustädter am 8. November eine Gedenkveranstaltung ausrichten. Es gelte allerdings – auch vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung – einen vielfältigen Prozess der Erinnerungskultur auf den Weg zu bringen. „In Deutschland und damit auch in Neustadt darf kein Platz für Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sein“, stellen die Stadtverordneten in ihrem Antrag heraus. Es sei wichtig, sich nicht auf eine einmalige, Veranstaltung zu beschränken, sondern nachhaltig und in würdiger Form zu gedenken und aus den Schicksalen Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Die Neustädter wollen künftig alljährlich an die Pogromnacht erinnern und in den Prozess die Martin-von-Tours-Schule und die christlichen Kirchengemeinden einbeziehen. Außerdem ist geplant, sich auch während des Stadtjubiläums im Jahr 2022 mit der Geschichte der Kommune zwischen den beiden Weltkriegen und dem Nationalsozialisten auseinanderzusetzen.
Dabei will sich auch die jüdische Gemeinde Marburg einbringen. Angedacht sind beispielsweise Besuche der Synagoge sowie Veranstaltungen, die sich um das jüdische Leben in früheren Zeiten aber auch in der Gegenwart drehen. „Es soll auch um Fragen gehen wie: Was ist das Judentum? Was sind Unterschiede zu anderen Religionen? Was sind Gemeinsamkeiten“, erläutert Groll.
Zunächst steht also die Aufklärungsarbeit im Vordergrund. Die Stolpersteine sind indes nicht aufgehoben, wohl aber aufgeschoben. „Es gibt in der Innenstadt zahlreiche Gebäude, die bis Ende der 1930er-Jahre jüdischen Mitbürgern gehörten“, sagt Groll und ergänzt, dass nach einer Stolperstein-Verlegung – die nicht vor allen Häusern auf einmal umgesetzt werden könne – der ein oder andere Neustädter mit Sicherheit fragen würde, warum vor seinem Haus Gedenksteine liegen, aber nicht vor anderen. „Wir behandeln das Thema also erst einmal im Detail. Vielleicht ändert sich ja die Einstellung der Menschen – wobei anzumerken ist, dass die Generation Hausbesitzer vor der jetzigen dem Thema noch viel kritischer gegenüberstand.“
Gatzweiler stellt heraus, dass es bisher wenig Reaktionen der Bürger zur Thematik gegeben habe: „Wir müssen die Geschehnisse der Vergangenheit aufarbeiten und das Thema breit in die Bevölkerung kriegen. Vielleicht bekommen wir ja dann ein einheitliches Verständnis für die Geschichte.