Ukrainerin mahnt: Geschichte wiederholt sich

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus / Neustadts Mahnmal wurde erweitert
Von Florian Lerchbacher
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Neustadt. „Wir müssen uns an die Seite all jener stellen, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden sollen“, lautete der Appell von Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch am Ende ihres Beitrages zur Veranstaltung, die die Stadt Neustadt am Donnerstag anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus ausrichtete. Zuvor hatte die stellvertretende Leiterin des Staatsarchivs Marburg und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Landsynagoge Roth herausgestellt, dass das NS-Regime die Juden als „rassisch minderwertig“ dargestellt und herabgewürdigt hätte, um den Mord an ihnen zu legitimieren – und traurigerweise in der heutigen Gesellschaft wieder ähnliche Tendenzen festzustellen seien.

Das brachte die eigentlich nur als Zuschauerin anwesende Polina Pevzner von der jüdischen Gemeinde in Marburg dazu, spontan emotionale Worte an die anderen Gäste zu richten. 17 ihrer Vorfahren seien im Holocaust den Nazis zum Opfer gefallen, sagte sie und betonte, gehofft zu haben, dass die Menschen aus der Geschichte lernen – allerdings habe sie momentan nicht den Eindruck, dass dem auch wirklich so sei. Die gebürtige Ukrainerin, die seit 1992 in Deutschland lebt, erinnerte an die einst von Hitler geplante Zerschlagung der Tschechoslowakei und das sogenannte Münchner Abkommen, mit dem das Land verpflichtet wurde, im Jahr 1938 die Sudetengebiete zu räumen. Genau das passiere derzeit mit ihrem Heimatland, während die Welt zuschaue.

„Putins Regime ist der Aggressor – die Ukraine braucht Schutz“, sagte sie und kritisierte die Haltung der Bundesregierung: „So wie sich Deutschland trotz eines vor der Tür stehenden Krieges verhält, kann ich nicht zufrieden sein.“ Sie könne nicht verstehen, dass das Land aus vermutlich ökonomischen Gründen an der Seite des Aggressor stehe und nichts unternehme.

Zuvor hatte Bürgermeister Thomas Groll kritisiert, dass „Antisemitismus und Gewalt gegen Schwächere leider immer noch einen Platz in unserem Land haben und sogar zunehmen“. Die schweigende Mehrheit müsse mutiger werden, den Werten des Grundgesetzes eine Stimme geben und damit zum Ausdruck bringen, dass eine Minderheit nicht die öffentliche Meinung beherrschen dürfe, unterstrich er Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er freute sich, Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch für die Erweiterung des Neustädter Denkmals für die Opfer des Nationalsozialismus gewonnen zu haben. Künstler Hans Schohl hatte für das Denkmal die fiktive Geschichte von Hans Lilienfeld – einen Neustädter, der von den Nazis ermordet wurde – geschrieben. Es sei ihm durchaus bewusst, dass dieser Ansatz umstritten war, so Groll. Aber Ziel der Aktion sei, das „jüdische Leben in die Stadt zurückzuholen“.

Nun hat Wenz-Haubfleisch ein zweites „Erinnerungsbuch“ für das Kunstwerk geschaffen und sich dafür mit dem ganz realen Leben und Leiden der Familie Karl Stern auseinandergesetzt. Einer Familie, die in Neustadt gelebt hatte – und unter dem Nazi-Regime Furchtbares ertragen musste. So kam sie nach der Vertreibung unter anderem ins Ghetto in Riga – wo die Straßen noch ins Blut von kurz zuvor ermordeten mehr als 1 000 lettischen Juden getränkt waren. Dass vier der fünf Familienmitglieder die Horrorjahre mit Aufenthalten in unterschiedlichen Konzentrationslagern überlebten, grenze an ein Wunder, so Wenz-Haubfleisch. Die Leidensgeschichte ist nun an dem Denkmal verewigt.

Am Abend des Gedenktages fand in der Nachbarstadt Stadtallendorf ebenfalls eine Veranstaltung statt, die Jörg Probst im Dokumentations- und Informationszentrum organisiert hatte. Die Stadt tauchte das Gebäude wie schon im vergangenen Jahr dafür unter dem Motto „Lichter gegen Dunkelheit“ in ein besonderes Farbenspiel und hängte die Flaggen auf Halbmast. Im Gebäude gab es Vorträge, eine Diskussionsrunde und Musik – Gäste konnten der Veranstaltung aber aus Corona-Gründen nur online beiwohnen.