Weniger Reglementierung, mehr Respekt

Eberhard Diepgen sprach während Gedenkveranstaltung zum Mauerfall und zog Schlüsse aus Geschichte

Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin a. D., blickte zurück, brachte die Geschichte mit der Gegenwart in Verbindung und stellte Forderungen für die Zukunft auf.

von Florian Lerchbacher

Neustadt. Mit einer beeindruckenden Rede zog Eberhard Diepgen während der von der Stadt Neustadt organisierten Gedenkveranstaltung „25 Jahre friedliche Revolution in der DDR und Fall der Berliner Mauer“ die Zuhörer in seinen Bann. Er gab durch seine persönlichen Erinnerungen und Analysen quasi lebendigen Geschichtsunterricht – was fehlte, war allerdings das jüngere Publikum.

„Meine Sorge war, welchen Handlungsspielraum die Sowjetunion überhaupt hat“, erinnerte sich Berlins Regierender Bürgermeister a. D. an seine wohl aufregendste Zeit in der Politik. Es sei damals nicht damit zu rechnen gewesen, dass es zu einem Paradigmenwechsel kommen würde: Das Land habe immer einen Machtanspruch nach Westen eingefordert – und plötzlich sollte / wollte sich die Sowjetunion aus der Mitte Europas zurückziehen: „Ich glaube, Gorbatschow hat sich damals auf einen Weg begeben, von dem er nicht wusste, wohin er führt. Das war unser Glück.“

Zudem stellte Diepgen immer wieder den Verdienst der Menschen in der DDR heraus, die dem Beispiel ihres Nachbarlandes folgten und gegen die Macht antraten: „Nach der Entwicklung in Ungarn war klar, dass es Chancen gibt zur totalen Veränderung Europas.“ Dass dies auch so kam, sei den „Revolutionären“ zu verdanken, die den Fall der Mauer herbeiführten, betonte der 72-Jährige – bei dem jedoch ein Ereignis noch bleibenderen Eindruck hinterließ, als es der Mauerfall getan hatte: Der endgültige Rückzug der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges aus Berlin und dem Gebiet der DDR im Jahr 1994.

Doch Diepgen gab nicht nur einen persönlichen Einblick in die Geschichte – er verband sie auch mit der Gegenwart. Zum Beispiel erinnerte er an die „Wanderbewegung“ der 1990er Jahre, als zahlreiche Menschen aus dem Osten Deutschlands gen Westen zogen. Dies habe einige Länder gestärkt, die heute in erheblichem Maße zum Länderfinanzausgleich beitragen müssten: Ein Land wie Hessen solle beachten, dass es zwar viel zahlen müsse – aber auch jede Menge guter Arbeitskräfte abgegriffen habe.

Kritik an der Bildungspolitik

Der Festredner sprach von einer „Revolution der Freiheit“ und ergänzte, dass Deutschland ein bisschen mehr Freiheit auch heutzutage wieder gebrauchen könne: Es gebe „vor allem in der Bildungspolitik“ viel zu viel staatliche Reglementierung, noch dazu müssten sich die Menschen im täglichen Leben ebenfalls mehr mit dem Thema „Freiheit“ auseinandersetzen.

„Wir können stolz auf das Erreichte sein“, fasste Diepgen zusammen und rief dazu auf, die Zukunft zu gestalten „mit Respekt vor den Lebensleistungen der Menschen“. Und Kritik hatte er auch noch im Köcher: Helmut Kohl, Bundeskanzler a. D., habe den 3. Oktober einst willkürlich – aus Wettergründen, so Diepgen – als Termin gewählt, um die deutsche Einheit zu feiern. Und auch die Art, wie Deutschland dies zelebriert, gefällt ihm nicht: „Der Wanderzirkus von einer Landeshauptstadt zur nächsten verhindert, dass es klare Strukturen für den nationalen Festtag gibt. Dies verhindert auch, dass die Einheit im Vordergrund steht.“ Die Feierlichkeiten gehörten in die Bundeshauptstadt: Und zwar nicht isoliert, sondern eingebettet in ein europäisches Prozedere.

Rund 45 Minuten dauerte Diepgens Rede, die das „Trio Semplice“ (Willfred Sohn, Karl-Joseph Lemmer und Michael Dippel) musikalisch umrahmte – mit den thematisch passenden Liedern „Wind of Change“, „Es war in Schöneberg“ und „Berliner Luft“. Danach wurde im Historischen Rathaus noch die von Bert Dubois zusammengestellte Ausstellung „25 Jahre Mauerfair eröffnet, die am 12., 15., 16. und 19. Oktober jeweils von 14.30 bis 16.30 Uhr zu sehen ist.