„Wir sind das Volk“ und der Kontext

Referent Dr. Richard Schröder blickte auf das Ende der DDR zurück und zog Vergleiche zur heutigen Zeit

Den Weg von Friedensgebeten über Montagsdemonstrationen bis hin zum Mauerfall beschrieb in Dr. Dr. h.c. Richard Schröder ein Mensch, der den Wandel in der DDR hautnah begleitete.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Entscheidend für den Fall der Berliner Mauer und das Ende der DDR war das Jahr 1989 – doch eigentlich begann die Geschichte viel früher, erklärte Richard Schröder – vom 3. April bis zum 21. August Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei der Volkskammer der DDR und Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages – während einer Gedenkveranstaltung in Neustadts historischem Rathaus. Aufgrund terminlicher Überschneidungen sei es 1980 zu einem Austausch von Jugendlichen und Senioren in Leipzig gekommen, an dessen Ende die Senioren ihre jungen Menschen dazu aufforderten, ihre Sorgen und Ängste öffentlich kundzutun. Daraus entstanden Friedensgebete, die immer montags in der Nikolaikirche stattfanden – erst mit 7, dann mit 11 und 13 Teilnehmern. 1983 sei es dann erstmals zu einer Art Demonstration gekommen, berichtete Schröder: 50 Jugendliche hätten still und mit Kerzen ausgerüstet auf dem Kirchenvorplatz demonstriert – woraufhin sechs von ihnen zu bis zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. Ein harter Schlag, der aber abgemildert wurde durch Michail Gorbatschow, der für Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) warb – was die Jugendlichen dann doch wieder darin bestärkt habe, sich für ihre politischen Interessen einzusetzen.
Mitte der 80er-Jahre habe die DDR-Führung dann einen entscheidenden Fehler gemacht, als sie 80 Ausreisewillige des Landes verwies. Sie habe wohl geglaubt, dass die „Zurückgebliebenen“ im Land sein wollten. Das Weltbild Erich Honecker sei eben zu „mechanistisch“ gewesen, sagte Schröder. Nur wenige Wochen später seien bereits 700 Menschen bei den Montagsgebeten erschienen – rund 80 Prozent davon Ausreisewillige. Die Bewegung wuchs, vernetzte sich und der Mut zu demonstrieren stieg. Am 2. Oktober 1989 gingen montags rund 20 000 Menschen in die Kirche beziehungsweise auf die Straße, am 9. Oktober 70 000 – und damit so viele, dass sich die Führung der DDR dagegen entschied, die Demo aufzulösen. Derweil appellierten die Demonstranten an die Sicherheitskräfte unter dem Motto „Wir sind das Volk“ nicht zuzuschlagen – sie seien schließlich ein Volk. Und das sei der Unterschied zu den Anhängern der AfD heutzutage, sagte Schröder: „Die AfD sagt dies mit der Auffassung „Wir sind das Volk – ihr nicht.“ Dies richte sich dann entweder an die Regierung oder an Flüchtlinge und drücke etwas ganz anderes aus, als früher gemeint war: „Es kommt eben auf den Kontext an.“
Schröder: „Die DDR wollte gar kein Rechtsstaat sein“
Die Demonstrationen nahmen zu, auch in anderen Städten gingen die Menschen auf die Straßen – bis die Mauer fiel. Schröder fasste die Ereignisse in Windeseile und mit einem gewissen Charme zusammen. So auch, wie er sich am Anfang seiner Rede zunächst auf die vergangene Gedenk-Veranstaltung und die Aussage Eberhard Aurichs bezog, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. Dem widersprach der Theologe vehement. Unter anderem habe die Stasi Gerichten den Ablauf von Verhandlungen vorgegeben und – bis auf eine kurze Aufnahme – keine Verwaltungsgerichte gehabt: „Die DDR wollte gar kein Rechtsstaat sein“, analysierte er.
Die Veranstaltung hat wieder das Neustädter Trio Semplice (Karl-Jospeh Lemmer, Michael Dippel, Wilfred Sohn) musikalisch untermalt – unter anderem mit der „Hymne der Wende“ der deutschen Rockband Scorpions „Wind of chance“. Außerdem trug der aus dem Erzgebirge stammende Neustädter Joachim Wermann ein selbst geschriebenes Gedicht vor, in dem er sich kurz gesagt über die Wiedervereinigung freute.