Drei pensionierte Lehrer geben den Flüchtlingen in Neustadt Deutschunterricht, um ihnen die Integration zu erleichtern
Rund 90 Flüchtlinge leben mittlerweile in Neustadt. Menschen, die in ihrer Heimat teilweise Schreckliches erlebt haben und nun ihr Bestes tun, um sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden.
von Florian Lerchbacher
Neustadt. Sie sind dankbar – das betonen die jungen Männer immer wieder. Dankbar, dass sie die Schrecken ihrer Heimat hinter sich gelassen haben. Dankbar, dass Deutschland sie aufgenommen hat. Dankbar, dass die Neustädter sie freundlich willkommen heißen. Er fühle sich sehr wohl in der kleinen Stadt, erklärt ein Syrer, der ebenso wie die meisten der Flüchtlinge aus politischen Gründen sein Vaterland verlassen hat. Die Männer sind zwischen 20 und 49 Jahre alt, überwiegend alleinstehend, warten auf eine Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl und leben bis dahin zusammen in Neustadt. „Zusammen, aber nicht gemeinsam“, wie Manfred Völzke betont. Sie stammen aus Syrien, Albanien, Eritrea, Äthiopien, Somalia, Palästina, Pakistan, Algerien, dem Irak und dem Kosovo – und waren überwiegend Einzelkämpfer, ergänzt der Mengsberger, der seinen neuen Mitbürgern helfen möchte, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Denn Hilfe hätten sie in der Vergangenheit kaum erhalten, kommentiert er.
Teilweise seien sie auf kleinen Booten geflohen und nach langen Tagen auf See in Italien gelandet, wo sie eine Unterschrift leisten und ihre Fingerabdrücke hinterlassen mussten und dann schnell weitergereicht worden seien. Italien habe den
Menschen nicht wirklich geholfen. Eigentlich habe dies kein Land außer Deutschland getan, übersetzt Ahmed Sibak, ein gebürtiger Ägypter, der mit einer Neustädterin verheiratet ist, seit einigen lahren in der Jun ker-Hansen-Stadt lebt und den Flüchtlingen als Ansprechpartner und Dolmetscher zur Seite steht – mit Arabisch erreicht er fast alle, notfalls gilt es eben, auf Hände und Füße zurückzugreifen, um die Kommunikation zu sichern.
Denn nur über Kommunikation kann so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Nur über Kommunikation können eventuell vorhandene Barrieren überwunden oder Bedenken ausgeräumt werden. Die Menschen müssen sich kennenlernen, hebt Völzke hervor. Und das sei nur möglich, wenn sie sich verständigen können.
Entsprechend hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den Flüchtlingen Deutsch beizubringen – und in Henner Lichtenfels aus Schlierbach und dem Neustädter Artur Hett zwei Mitstreiter gefunden, die ebenso wie er pensionierte Lehrer sind. Die drei Männer vom Fach stehen aber nicht alleine da: Der Verein „Asylbegleitung Mittelhessen“ unterstützt sie und gibt ebenfalls Deutschunterricht wobei diese Stunden bei den Flüchtlingen fast noch beliebter seien, da die Lehrer dann keine alten Männer, sondern junge Frauen seien, wie Völzke mit einem Augenzwinkern berichtet.
Doch auch der Unterricht der drei Pensionäre kommt bei den Asylbewerbern gut an: Zwar trudeln sie zu den eigentlich um Punkt zehn Uhr beginnenden Stunden erst nach und nach ein, doch davon lässt sich der Mengsberger nicht aus der Ruhe bringen: In ihren Heimatländern nehmen sie es mit der Pünktlichkeit nicht so genau, sagt er. Zur Integration gehöre aber auch, sich an Gewohnheiten und Sitten anderer Kulturen zu gewöhnen –und die deutsche Pünktlichkeit werde er ihnen im
Laufe der Zeit auch noch vermitteln. Doch die sei erst einmal nebensächlich: „Die Flüchtlinge sollen sich hier wohlfühlen und nicht unter Spannung stehen“, erklärt er und heißt sie willkommen. Einen nach dem anderen, und alle per Handschlag.
Im Gepäck hat Völzke stets Gegenstände aus dem alltäglichen Leben: „Die emotionale Ebene ist wichtig. Wir möchten ihnen als Erstes das beibringen, was in ihrem Erlebnisbereich liegt.“ Mal sind es Artikel aus dem Badezimmer, mal aus der Küche, mal widmet er sich den Teilen des menschlichen Körpers. Diesmal hat er ein Fahrrad dabei, das eine Neustädter Familie den Flüchtlingen gespendet hat – und das entsprechend zunächst als praktisches Beispiel einen Nutzen findet.
Auf kleinen Zetteln haben Völzke und Lichtenfels die Bezeichnungen für die Teile des Fahrrads notiert, die sie Stück für Stück anbringen und die Bedeutung mit Händen, Füßen und der Unterstützung Sibaks erläutern. Die „Schüler“ sprechen die Wörter nach und entdecken Ähnlichkeiten: „Rücklicht – so wie Rücken?“, fragt Tesfa Abera, der aus Eritrea stammt, und verdreht seinen Arm, um auf den Körperteil zu zeigen, den er meint.
Was den ein oder anderen überraschen mag, ist für Völzke kein Grund, sich zu wundern: „Sie sind sehr wissbegierig“, sagt er mit Blick auf seine „Klasse“
und weist darauf hin, dass viele der Flüchtlinge in ihrer Heimat ein Studium abgeschlossen hätten.
Entsprechend birgt der Unterricht aber auch Risiken: Zum Beispiel nutzen die ehrenamtlichen Lehrer ausrangierte Grundschulbücher, die Völzke organisiert hat: „Es ist schwierig, die Männer als Erwachsene anzusprechen, obwohl wir Hilfsmittel nutzen, die auf Kinder ausgerichtet sind. Wir müssen aufpassen, dass der Unterricht nicht kindisch wird.“
Die Gratwanderung scheint den Pensionären jedoch zu gelingen, jedenfalls zeigen die Flüchtlinge großes Interesse, beteiligen sich fröhlich am Unterricht und kommen gegebenenfalls auch in den Genuss von Sonderbehandlungen: Hett hat es sich zur Aufgabe gemacht, Probleme individuell anzugehen, wenn er merkt, dass einzelne nicht mitkommen. Und manch einer weiß sich mit modernsten Mitteln der Technik zu helfen, um später die Stunde rekapitulieren zu können: Rasch ist ein Smartphone gezückt und ein Foto von dem Rad und den Bezeichnungen gemacht.
Über die Teile des Fahrrads kommt die Klasse zu den Verkehrsregeln, die Völzke mit einem Grundsatz zusammenfasst: „Rot heißt Verbot“, erklärt er, malt verschiedene Verkehrszeichen an die Tafel und erläutert deren Bedeutung. „Was glaubt Ihr: Warum fahren in Deutschland so viele Menschen Fahrrad?“, fragt er schließlich. Weibs praktisch, gesund und gut für die Umwelt ist, antworten die Flüchtlinge – woraufhin sich im Laufe des Gesprächs herausstellt: Nicht alle von ihnen können überhaupt Fahrrad fahren. Er habe es nie probiert. Zuhause sei er meist gelaufen, erläutert ein junger Mann, dessen Tischnachbar sich aber sofort bereiterklärt, ihm das Fahrradfahren später beizubringen.
Ein Drahtesel stand ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits zur Verfügung. Weitere 15 wolle die evangelische Kirchengemeinde vorbeibringen, kündigte Roland Schade kurz vor dem Jahreswechsel an. Eine Tischtennisplatte hatten Neustädter zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel schon zur Verfügung gestellt. „Wir müssen Zeichen setzen“, hebt Schade hervor. „Zeichen, dass es in Neustadt nichts wie Pegi- da gibt. Und dass die Menschen hier willkommen sind.“ Es gelte, die Neustädter aufzuklären und gegebenenfalls Ängste zu nehmen: „Wir müssen ihnen zeigen, dass Flüchtlinge alles andere sind als Taliban, vor denen man sich fürchten muss“, sagt Schade.
„Welten lernen sich kennen“, gibt der Kirchenälteste als Motto aus und hebt hervor, dass dies unabhängig von Religionen passieren solle (unter den Flüchtlingen finden sich sowohl Moslems als auch Christen).
Die Kirchengemeinde initiierte bereits eine Veranstaltung, bei der sich die Menschen begegneten. Trotz aller Sprachbarrieren kam es zur ersten, schüchternen Kontaktaufnahme – und der Erkenntnis, dass die Flüchtlinge diverse Dinge auf dem Herzen haben: Sie würden zum Beispiel gerne arbeiten, haben aber keine Erlaubnis dazu, sagt Schade. Entsprechend würden sie nach Aufgaben suchen, um ihren Tagen eine gewisse Struktur zu geben – ein kurdischer Syrer habe zum Beispiel mit Freude geholfen, Weihnachtsbäume aufzustellen: „Das sind Signale, die wir gerne aufnehmen und auch zurückgeben möchten.“ Von Seiten des VfL Neustadt beziehungsweise Wolfram Ellenberg kam bereits die Mitteilung, dass sein Verein bereit sei, die Flüchtlinge am Angebot teilhaben zu lassen. „Ich werde mal mit ein paar Jungs zum Fußballtraining gehen“, sagt Völzke und ergänzt hoffnungsvoll: „Mal schauen, ob sich auch andere Vereine finden, die so offen sind.“
Weitere Planungen, um die Integration voranzutreiben, sind eine für Freitag vorgesehene Stadtführung und Kochstunden „vor Ort“. Die seien notwendig, glaubt Völzke. In ihrer Heimat seien die meisten der Flüchtlinge bekocht worden – ein Genuss, in den sie nun nicht mehr kämen. Vor dem Kochen werde aber noch gemeinsam eingekauft, kündigt er an. Lernen am praktischen Beispiel eben. Beziehungsweise Unterstützung beim Einleben in einer fremden Gesellschaft. Kurz gesagt: vorbildlich.
Unabhängig vom Einsatz für in Neustadt dauerhaft untergebrachte Flüchtlinge, steht die Junker-Hansen-Stadt vor einer neuen Herausforderung. Wie die OP mehrfach berichtete, gibt es sehr konkrete Überlegungen des Regierungspräsidiums Gießen, Gebäude der früheren Neustädter Kaserne zu nutzen. Dort könnte eine Außenstelle der Erstaufnahme-Einrichtung Gießen entstehen – zumindest vorübergehend. Die Stadt wartet derzeit auf die abschließende Festlegung des Regierungspräsidenten.