Geflüchtete verspüren Herzlichkeit

Menschen aus der Ukraine finden in Neustadt eine neue Heimat / Leben zwischen Sorge und Hoffnung
Von Florian Lerchbacher
Neustadt. „Ich habe nicht gedacht, dass der Krieg so lange dauert und ich so lange hier bleibe“, sagt Anna Yurchenko, die vor fast einem Jahr gemeinsam mit ihrer Nachbarin Yana Zinchenko und deren Kindern Platon und Polina nach den Angriffen Russlands auf die Ukraine schweren Herzens ihre Heimatstadt Charkiw verließen – und ihre Männer und den Rest ihrer Familien zurücklassen mussten. In Neustadt fanden die Vier ein neues Zuhause.

„Was für ein Glück, dass wir genau hierher kamen“, sagt Yurchenko, denn in der Stadt am östlichen Rande des Landkreises Marburg-Biedenkopf stießen die Geflüchteten auf viel menschliche Wärme und große Hilfsbereitschaft. Marcus Wildschütz habe ihnen beispielsweise ein Dach über dem Kopf geboten und ihr – eigentlich Betreiberin eines Reisebüros – bei Faudi Aviation im Marketing einen Job gegeben. Heike und Henrik Gieße sowie Sandra und Thomas Wesseler seien perfekte Nachbarn gewesen, die bei der Integration halfen. Andrea Janik habe ihr bei Dokumenten geholfen oder die Familie Holland-Letz der jungen Polina die Möglichkeit geboten, auf Pferden zu reiten.

„Wir wurden willkommen geheißen und aufgenommen. Das half uns sehr und sorgte dafür, dass wir hier sogar eine schöne Zeit haben. Niemand wird hier mit Sorgen oder Problemen alleingelassen. Wir haben quasi eine neue Familie“, sagte die Ukrainerin und spricht zwei weiteren Frauen großes Lob für ihr Engagement aus: Nicole Zinkowski vom Familienzentrum habe Großes geleistet und beispielsweise dafür gesorgt, dass es an der Martin-von-Tours-Schule eine Integrationsklasse gibt, sodass die Kinder nicht nach Stadtallendorf zum Unterricht müssen.

Schüsse begleiten jedes Telefonat mit der Heimat

Besonders aber die aus der Ukraine stammende Marina Schreiner haben alle Geflüchteten in ihr Herz geschlossen – weil diese vielen Menschen ein Zuhause geboten habe, stets für die Menschen da sei und immer helfe. „Ihr Haus ist für alle offen. Sie ist eine beeindruckende Frau“, sagt Yurchenko – bekommt das Lob aber auch gleich zurück: „Anna ist ein Engel auf Erden. So einen Menschen habe ich noch nie kennengelernt“, sagt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern und spielt ihr herausragendes Engagement herunter: Es sei doch eine Selbstverständlichkeit.

Die beiden Kinder fühlen sich in ihrem neuen Heimatland wohl, Yurchenkos Mann ist inzwischen per Sondergenehmigung wohlbehalten in Deutschland angekommen – dennoch ist der Wunsch weiterhin groß, endlich zurück nach Hause zu können. Im November war die 38-Jährige kurz in Charkiw. Mehr als die Hälfte dieser wunderschönen Stadt sei zerstört – dennoch glaubt sie, dass sie wieder aufgebaut werden kann: „Mein Traum ist, all den netten Menschen aus Neustadt eines Tages zeigen zu können, wo ich herkomme“. Derzeit jedoch ist eine Rückkehr für die Geflüchteten keine Option. Der Krieg tobt weiter. Bei den täglichen Telefonaten mit Eltern und Verwandten sind im Hintergrund oftmals Explosionen und Schüsse zu hören – und das, obwohl sich diese an vermeintlich sicheren Orten aufhalten. Jeden Tag fallen in Charkiw und Umgebung Bomben, jeden Tag leben die Geflüchteten in Angst, dass ihre Lieben den Angriffen zum Opfer fallen. „Sie fürchten sich nicht. Sie verteidigen unser Land, unsere Heimat – das hält sie aufrecht“, betont Yurchenko und empfindet Wut auf die Angreifer, aber keinen Hass. Anders sieht das Olena Olutina, die seit November in Neustadt lebt: „Ich habe den Hass der Russen auf die Ukrainer schon mein ganzes Leben lang gespürt. Sie haben uns immer wieder gesagt, dass sie uns hassen und eines Tages einnehmen werden.“ Eigentlich wollte sie daher auch nicht fliehen, sondern in ihrem Heimatland bleiben und es an der Seite ihres Mannes verteidigen.

Nach zwei Wochen entschied sie sich aber doch zur Flucht, die sie zunächst zu ihrer Tochter nach Spanien führte. Verbittert sagt sie über sich selbst: „Ich bin schwach“ – und lässt sich davon auch nicht abbringen. Ihr Mann blieb in der Ukraine, wurde von Granatsplittern verletzt – ließ sich aber nicht davon abhalten, sobald wie möglich wieder für sein Land zu kämpfen. „Ich weine jeden Tag, er nicht.

Er gibt mir Hoffnung“, sagt die 45-Jährige und berichtet, dass ihre Mutter und ihre Schwester ebenfalls noch in der Heimat sind. Eine Flucht komme für sie aber nicht in Frage, weil sie Angst haben, dass Sohn und Mann der Schwester in den Krieg ziehen müssen. Ihnen wollten sie zur Seite stehen.

„Aber: Sie sind pessimistisch und haben keine Hoffnung. So wie ich“, fasst Olutina zusammen. Eine Ansicht, die für Yurchenko nicht in Frage kommt. Sie hofft weiter, dass ihre Heimat den Angriff der Russen abwehrt und sich eines Tages das Leben wieder normalisiert.