Ein „Smiley" steht für den Lernerfolg

Die OP stellt das Konzept der Martin-von-Tours-Schule Neustadt vor Besuch beim „freien Lernen“
Konzentriert und mit viel Selbstdisziplin beschäftigen sich die Siebtklässler der Martin-von-Tours-Schule beim „freien Lernen“ mit ihren eigenen Stärken und Schwächen.
von Michael Rinde
Neustadt. Vor vier Jahren wagte die Neustädter Gesamtschule den Schritt und wechselte ihre Schulform, wandelte sich von einer kooperativen in eine integrierte Gesamtschule, die zweite im Kreisgebiet. Ein wichtiges Element im Konzept ist das freie Lernen: ein Baustein auf dem Weg dazu, die Schüler zum selbstständigen Arbeiten zu erziehen, sie zu fördern und zu fordern. Die OP besuchte eine Doppelstunde.
Alle Klassenräume stehen weit offen. Während des Unterrichts dürfen die Schüler wann immer sie wollen von einem Raum in den nächsten wechseln. Sie holen sich Rat bei Lehrern oder Mitschülern aus einer anderen Gruppe.
Drinnen wird deswegen aber nicht weniger konzentriert gearbeitet: Wohin schicken die Schüler die Reisegruppe in London? Und wie erklären sie den Weg dorthin am besten? Mit diesen und ähnlichen Fragen mussten sich während der zwei Stunden „freies Lernen“ zahlreiche Schüler auseinandersetzen. Sie arbeiten an Präsentation im Englischunterricht.
Nur einen Tisch weiter sitzen zwei Schüler angestrengt am Laptop, trainieren ihre Fähigkeiten im Prozentrechnen. Sie möchten auch nicht dabei gestört werden oder lange erklären, was sie gerade machen. Denn die Mathematikarbeit rückt immer näher. Sie wissen um ihre Schwächen und wollen in Ruhe lernen. Ein anderer Schüler hat wenige Tage vorher eine Englischarbeit geschrieben – und weiß, dass er wohl noch üben muss, um in Englisch besser zu werden. Das berichtet er zu Beginn der Stunde auch Lehrerin Monique Gonder. Sie gibt ihm den Rat, sich bei ihrer Kollegin, der Englischlehrerin Monika Holzhausen noch konkrete Aufgaben geben zu lassen.
Alle diese Schüler haben eines gemeinsam: Sie wissen sehr genau, was sie zu tun haben. Und das haben sie weitgehend selbst festgestellt.
Auch wenn an den Nachbartischen immer wieder leise gemurmelt wird, Michelle Polednik lässt sich nicht vom Lesen im Englischbuch abhalten. Sie übt während der Doppelstunde für ihr großes Ziel in diesem Halbjahr. Sie möchte unbedingt vom Grund- in den Erweiterungskurs wechseln. Nach einiger Zeit setzt sich Nicole Tulay zu ihr. Nicole besucht den „E-Kurs“ bereits, hilft Michelle aber sehr gerne beim Üben. Beide haben auch kein Problem damit, am PC im Nebenraum Begriffe im Internet zu recherchieren.
An den anderen Tischen
haben sich gleich zu Beginn des „freien Lernens“ Zweiergruppen mit ganz verschiedenen Themen gebildet. Es geht immer wieder um dieselben Fächer: Deutsch, Mathematik und Englisch.
Das „freie Lernen“ läuft zwar wirklich sehr frei für die 64 Schüler ab, allerdings nie unkontrolliert. Gleich zu Anfang der beiden Stunden sind die Lehrer gefragt. Sie sprechen mit jedem der Kinder über das, was sie sich vorgenommen haben. Meistens ergeben sich die Themen für die Kinder von selbst. Immer steht aktueller Stoff im Vordergrund. Englischlehrerin Monika Holzhausen ist an diesem Morgen besonders gefragt. Geht es doch um die anstehende Englischpräsentation. Sie muss immer wieder Nachfragen klären, Hinweise geben oder auch mal eingreifen, wenn sich Schüler verzetteln. Im „normalen“ Englischunterricht hätte sie bei weitem nicht so viel Zeit für jeden einzelnen.
Und das registrieren auch die 13-jährigen Schülerinnen Michelle und Nicole. Beide kennen das „freie Lernen“ seit der fünften Klasse. Dort laufen die vier Unterrichtsstunden allerdings noch deutlich „lehrerorientierter“ ab.
Die Schüler müssen sich an Aufgaben messen, die ihnen vorgegeben werden. „Beim freien Lernen haben die Lehrer viel mehr Zeit für uns“, antwortet Nicole Tulay auf die Frage, was ihr an diesen Doppelstunden besonders gefällt. Schön sei, dass sich die Schüler auch untereinander helfen könnten, hebt Michelle hervor.
Das während des „freien Lernens“ im Klassenzimmer immer wieder gesprochen wird, stört keines der beiden Mädchen. Im Augenblick reichen ihnen die zwei Wochenstunden völlig aus. Aber sie haben Wünsche, zum Beispiel, dass noch mehr Fächer in das Freie Lernen einbezogen werden. Oder das sie den Computer-Führerschein machen können.
Ohne Kontrolle geht keine Doppelstunde zu Ende. Jeder Schüler erklärt der Lehrerin oder Lehrer seiner Gruppe, wie weit er mit der selbstgestellten Aufgabe gekommen ist. Im Lerntagebuch gibt der Schüler zunächst eine Selbsteinschätzung ab – eine Spalte mit Smylies in verschiedenen Varianten. Vom Lehrer gibt es ebenfalls eine entsprechende Bewertung in den Schülerplaner. Die Smileys haben für Schüler wie Eltern einen Wert. Eltern wissen beim Blick in den Schülerplaner sehr genau, womit sich ihr Kind beschäftigt oder was an der Schule anliegt.
Der Schülerplaner ist das Bindeglied zwischen Eltern und Schule. Dort finden sich auch Anmerkungen oder Mitteilungen für die Eltern. Einmal wöchentlich müssen Eltern unterschreiben, dass sie in den Planer geschaut haben.
Kontakt: Wer weitere Informationen möchte, kann sich an die Martin-von-Tours-Schule, Telefon 0 66 92 / 8075, Internet www.igs-neustadt-hessen. de (ab 2013 www.martin-von-tours-schule.de).
Die OP wird in eigenen Beiträgen auch die Sicht von Lehrern und Eltern auf die Entwicklung der Martin-von-Tours-Schule zur integrierten Gesamtschule darstellen.

Die Martin-von-Tours-Schule Neustadt hat aktuell 526 Schüler, 333 davon am Standort Querallee, weitere 193 an der Waldschule. Die Worte „Fördern“ und „Fordern“ stehen im Mittelpunkt des Konzeptes, das sich die Schule gegeben hat. Erklärtes Ziel: Jeder Schüler soll den für ihn bestmöglichen Abschluss erreichen können. So formuliert es Schulleiter Hartmut Boß. Das „freie Lernen“ ist dabei ein Beitrag auf dem Weg hin zu Schülern, die ihre Lernprozesse mehr denn je selbstbestimmen. Ein wichtiges Element der integrierten Gesamtschule ist die späte Differenzierung, nicht bereits nach der vierten Klasse. Sie beginnt eigentlich erst in der siebten Jahrgangsstufe, wenn Schüler zunächst in Englisch und Mathematik in Grund- und Erweiterungskurse eingestuft werden. Ein „Aufstieg“ ist dabei immer möglich. Die Klassen sieben und acht gelten als „Orientierungsphase“ im Hinblick auf Schulabschluss und mögliche Berufswahl. In den Klassen neun und zehn steht dann Schulabschluss im Vordergrund, die Kurse in den verschiedenen Fächern sind entsprechend zugeschnitten. Ganz wichtig im Schulkonzept ist dabei eine breite Berufsvorbereitung.