„Ich hörte die Stiefel der SS“ – MNZ

Die gebürtige Mombergerin Gisela Spier-Cohen erinnert sich an Nazi-Deutschland
Von Pelin Aytag
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Marburg/Neustadt-Momberg. 45 Jahre hat es gedauert bis Gisela Spier-Cohen begann, über das zu sprechen, was ihr widerfahren war. Als zehnjähriges Mädchen erlebte sie die Reichspogromnacht, und zwar bereits am 8. November 1938. Die SA (Sturmabteilung der Nazis) marschierte in ihren Heimatort Momberg bei Neustadt ein, um die Synagoge zu plündern und die Häuser der neun jüdischen Familien im Ort zu zerstören.
„Es war ein schöner Herbsttag. Ich spielte mit meiner Freundin Margarethe im Garten Ball, als ein Fremder in das Haus meiner Eltern ging“, erinnert sich Spier-Cohen an den Spätnachmittag des 8. November. Die damals Zehnjährige folgte etwas später dem Mann, „um zu sehen, was los war.“ Sie habe gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war.
■ Der Vater ging zur Synagoge, um die vom Großvater gestiftete Tora zu holen
„ Es war bereits Abend und meine Mutter hatte für das Essen gedeckt. In der Ecke des Esszimmers saß eine alte jüdische Dame, die immer bei den jüdischen Familien zu Besuch war“, sagt die 80-jährige Zeitzeugin. Der fremde Mann habe neben ihrem Vater Siegfried Spier gesessen und gesagt: „Ihr seid alle dumme Leute im Dorf. Was sich alles in den Städten tut, wisst ihr nicht. Juden werden verprügelt, ihre Fenster mit Steinen beworfen.“ Der Fremde war gekommen, um die Familie zu warnen. Spier-Cohen hat nie erfahren, wer dieser Mann war. „Jahrelang habe ich überlegt. Ich denke es war ein alter Kriegskamerad meines Vaters“, sagt sie.
Die Familie bekam Angst. Ihre Mutter Sitta Spier schickte den Vater los, damit er die Tora aus der Synagoge holt, die ihr Vater gestiftet hatte. Er ging zur Synagoge und die Mutter beauftragte die Zehnjährige, die alte Dame nach Hause zu begleiten und die Nacht bei ihr zu verbringen. Die Frau wohnte in einem Haus, das Christen gehörte. „Wir saßen bei ihr und hatten Angst und haben gezittert“ sagt sie und hält einen Moment inne. Plötzlich hörten sie die SA am Haus vorbeimarschieren: „Sie haben gesungen: „Wetz die langen Messer in das Judenpack hinein. Blut soll spritzen, fragt aber nicht wie viel. Wir scheißen auf die Freiheit, der Jude kommt nicht ans Ziel‘.“
„Am nächsten Morgen bin ich auf dem Weg zur Schule erst einmal zu meinen Eltern gegangen.“ Sie traf ihre Mutter auf der Treppe ihres Hauses sitzend an: „Sie hatte nur einen Kittel an und ihre Haare waren ungekämmt. Ich habe sie gefragt: „Wie siehst du denn aus?“. Ihre Mutter weinte.
Zusammen gingen sie zur Synagoge: „Alles war in Trümmern. Vor der Synagoge brannte etwas.“ Die SA hatte Bücher, Geräte, Vorhang und Mobiliar der Synagoge angezündet, die Fenster eingeschmissen. „Wir versuchten, die Sachen aus der Asche herauszuholen. Der Schmerz im Herzen war größer, als der Schmerz in den Händen“, sagt die 80-Jährige.
Anschließend gingen sie und ihr Bruder in die Schule. Doch der Lehrer verweigerte ihnen den Zutritt: „Ihr könnt nicht ‚rein. Ihr seid aus der Schule geschmissen.“ Das waren die Rassengesetze der Nazis: „Es war nicht erlaubt, dass ein jüdisches Kind neben einem arischen saß“, sagt Spier-Cohen.
Auch nach 70 Jahren fragt sich Gisela Spier-Cohen: „Warum haben sie das getan?“ Ihr Vater habe Deutschland geliebt, er habe im ersten Weltkrieg für seine Heimat gekämpft und sei verletzt zurückgekehrt. Auch die Brüder ihrer Mutter fielen im Krieg, als sie für Deutschland kämpften.
Später habe sie von ihren Eltern erfahren, dass die Männer der SA vor ihrem Haus „Jude verrecke, Jude raus“ gerufen und mit Steinen die Fenster eingeschmissen hatten. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr drei Jahre älterer Bruder Manfred flohen durch die Hintertür zu Tante Katinka. „Meine Tante fiel fast in Ohnmacht, als sie meine Eltern und meinen Bruder in Nachthemden sah.“
Die Synagoge hatte die SA nicht angezündet, weil die Bauern sie davon abhielten. „Das Feuer wäre sofort auf die benachbarten Scheunen übergegangen. Und die Feuerwehr durfte ja nicht löschen“, erklärt sie. Doch die „Momber-scher“, wie Spier-Cohen sagt, seien „anständig“ gewesen.
„Mein Vater war Gemeinderat, bis die Nazis an die Macht kamen. Wir waren ein Teil der Gemeinde.“ Siegfried Spier besaß eine Matze-Fabrik (koscheres Brot) und beschäftigte viele Menschen. Auch die Fabrik wurde in der Nacht des 8. November zerstört. Bis 1935 betrieb Vater Siegfried das koschere „Hotel Germania“ in Bad Wildungen. „Nach 1935 kamen aber keine Juden mehr zum Kuraufenthalt aus dem Ausland.“
Nach dem 8. November war im Leben der Spiers nichts wie vorher. Zunächst wurde Gisela Spier-Cohen nach Frankfurt in eine Schule geschickt, danach kam die ganze Familie in das „Ghetto“ Theresienstadt. Später ging Spier-Cohen freiwillig mit ihrer Familie nach Auschwitz. Ihre Eltern wurden dort vergast. Ihr Bruder starb an Hungertyphus. Sie überlebte Auschwitz mit Hilfe einer Freundin. Die machte Spier-Cohen Mut: „Wir müssen am Leben bleiben, sonst glaubt niemand, was passiert ist.“
1945 wurde Spier-Cohen im Alter von 16 Jahren aus Freiberg befreit. Sie wog 21 Kilogramm. Ohne Familie ging sie 1950 zu Verwandten nach New York und fünf Jahre später nach Kanada. Dort heiratete sie. Der Hof des Vaters in Momberg wurde unter heute nicht nachvollziehbaren Gründen verkauft, als sie in den USA lebte. Geblieben ist ihr ein Gartengrundstück ihrer Eltern in Momberg.
1965 kam Spier-Cohen das erste Mal zurück nach Deutschland. In Marburg besuchte sie Bekannte und wollte auch nach Momberg: „Eine Nacht vorher hörte ich im Traum die Stiefel der SS. Ich dachte, sie kommen, um mich zu holen.“ Am nächsten Tag reiste sie ab, ohne Momberg zu besuchen: „Ich wollte, aber ich konnte nicht.“ „Sie sind trotz Mord davon gekommen“, sagte ihre Tochter Missy
Erst 1975 ging sie nach Momberg. Sie nahm ihre jüngste Tochter Missy mit. Beide besuchten die halbe Synagoge, die heute eine Garage ist, den Friedhof, die ehemalige Fabrik. „Sie sind trotz Mord davon gekommen“, sagt die Tochter. An diesem Tag beschloss Spier-Cohen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Doch erst 15 Jahre konnte sie vor anderen Menschen darüber sprechen.
Gisela Spier-Cohen ist zurzeit in Marburg zu Besuch bei Regina Neumann, Lehrerin an der Marburger Elisabethschule, um ihre Geschichte an Schulen Kindern und Jugendlichen zu erzählen. Das macht sie seit 2006 regelmäßig einmal im Jahr, „um sie zu warnen und zu mahnen.“