Geflüchtete glauben weiter an das Gute

In Neustadt haben 60 Menschen aus der Ukraine Zuflucht gefunden / Vier berichten über den Krieg und ihre Flucht
Von Florian Lerchbacher
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Neustadt. Rund 60 Geflüchtete aus der Ukraine sind bei Privatmenschen in Neustadt untergekommen. Unter ihnen Anna Yurchenko sowie Yana Zinchenko mit ihren Kindern Platon und Polina – vier Menschen, die unfassbares Leid erleben und mit ansehen mussten und schweren Herzens ihre Männer und den Rest ihrer Familien in der Heimat zurückließen. „Hauptsache, die Kinder sind in Sicherheit.“ Dieser Gedanke habe bei der Entscheidung zur Flucht nach Deutschland im Vordergrund gestanden, betont Yana Zinchenko.

Am 24. Februar um 5 Uhr morgens waren sie und ihre Familie mitten in einem Wohngebiet in Charkiw von lautem Knallen geweckt worden. Ihre Mutter habe sofort alle Verwandten angerufen, um zu prüfen, dass alles in Ordnung ist, erinnert sich Polina Zinchenko zurück. Als der erste russische Angriff nicht endete, habe die Familie gemeinsam mit Nachbarin Anna Yurchenko und ihrem Mann erstmals im Keller des Gebäudes Schutz gesucht – ein Ort, an dem die Gruppe ebenso wie in einer nahe gelegenen, unterirdischen Metro-Station in der folgenden Woche viele qualvolle Stunden verbringen sollte. Nur in den wenigen „ruhigen“ Stunden kehrten die Menschen kurz in ihre Wohnungen zurück, um sich schnell zu waschen, die Zähne zu putzen und etwas Essen zu holen.

Zunächst hätten sie die Hoffnung gehabt, dass die Attacken schnell enden, berichtet das Mädchen. Doch es habe sich abgezeichnet, dass die Russen nicht von der Ukraine ablassen – und so sei die Entscheidung zur Flucht gefallen. Zu sechst in einem Auto machten sich die beiden Familien aus Charkiw in der Nähe der Grenze zu Russland auf den Weg in ruhigere Zonen im Landesinneren. Im Gepäck hatten sie nur das Nötigste, vor allem Kleidung für die Kinder sowie eine Katze und eine zahme Hausratte (die später bei der Großmutter bleiben sollten). Dabei kamen sie nur langsam voran, sagt Yana Zinchenko. Zum einen, weil viele Menschen flohen. Zum anderen, weil sie an zerstörten Panzern, Flugzeugen oder an Bombenkratern vorbeifahren und dabei entsprechend vorsichtig sein mussten.

Einmal sei ein Zug in unmittelbarer Nähe abgeschossen worden. Wie man Kindern erklärt, was um sie herum vor sich geht? Das muss man nicht, antwortet die Ukrainerin: Die Angst sei permanent da und die Gefahr so offensichtlich, dass es keiner erklärenden Worte bedarf, wie groß die Bedrohung ist. „Aber wir waren jede Sekunde dankbar, dass wir noch am Leben sind und hatten großes Mitleid mit den Menschen, die um uns herum starben.“

Zweimal täglich Kontakt mit ihren Männern

Im Landesinneren fanden die sechs dann auch tatsächlich einen Unterschlupf. Die Angst blieb jedoch omnipräsent. Doch dann kam aus Deutschland ein Anruf einer ehemaligen Schulkameradin der beiden Frauen, die ihnen mitteilte, dass ihnen in Neustadt eine Wohnung angeboten werden könne. Bei den Zinchenkos sei die Entscheidung sofort klar gewesen, erinnert sich Anna Yurchenko. Sie selbst habe das Land eigentlich nicht verlassen wollen, sich dann aber doch zur Flucht entschieden, um Schutz zu suchen. „Meine Mutter würde ich gerne noch nachholen“, erklärt sie und berichtet von einer Flucht mit dem Auto durch Moldawien, Rumänien, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland.

Zweimal täglich stehen die beiden Frauen mit Eltern und Ehemännern per Whatsapp in Kontakt. Es gebe weiterhin ständig Angriffe – mit Ausnahme der Zeit zwischen 6 und 7.30 Uhr. Der einzigen Zeit, in der sich die Menschen aus dem Schutz der Metrostationen noch heraustrauen. „Unsere Männer haben noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten. Wir hoffen, dass sie eines Tages auch aus der Ukraine fliehen dürfen“, sagt Anna Yurchenko und erinnert daran, dass für Männer zwischen 18 und 60 Jahren derzeit ein Ausreiseverbot gilt.

Geflüchtete trauern ihrer zerstörten Heimat nach

In Charkiw sind die Auswirkungen der russischen Angriffe immer deutlicher zu sehen. Auf ihrem Mobiltelefon hat Yana Zinchenko ein kurzes Video, das das Hochhaus zeigt, in dem sie und ihre Familie ebenso wie die Yurchenkos leben. Die Haustür wurde durch eine Explosion aus den Angeln gerissen, an den Wänden sind überall Rauchspuren und auch Einschusslöcher zu sehen. Sie seien immer noch sehr stolz auf Charkiw, stellen die beiden Frauen heraus. „Unser Bürgermeister hat die Stadt zu einer schönen europäischen Stadt entwickelt mit vielen sozialen Möglichkeiten. Ich bin sehr traurig, dass sie in Schutt und Asche gelegt wird“, sagt Yurchenko und verrät, wie sie mit ihrer Angst umgeht: „Ich sage mir immer, dass der Krieg bald aufhört.“ Und das ist das besonders Bewundernswerte an den beiden Frauen: Trotz der erlebten Gräueltaten glauben sie noch immer an das Gute und daran, dass der Krieg bald aufhört. Sie hoffen, dass sie alsbald zurück in die Ukraine können: „Genauso schnell, wie wir hergekommen sind.“

Bis es so weit ist, haben sie in Neustadt eine neue Heimat gefunden. Die Hilfsbereitschaft in der Junker-Hansen-Stadt ist – ebenso wie im Rest Deutschlands – riesig. Beispielsweise haben die vier Geflüchteten in Marina Schreiner bereits eine Freundin gefunden.

Die Neustädterin stammt ursprünglich aus Kasachstan, lebt aber bereits seit 30 Jahren in Deutschland und arbeitet eigentlich bei Rewe an der Kasse. Spontan entschloss sie sich, Geflüchteten zu helfen, sie mit Spenden zu unterstützen und als Übersetzerin ihnen zur Seite zu stehen (so auch beim Gespräch mit dieser Zeitung). Das Gleiche gilt für Elena Mayer, die einst Übersetzerin und Deutschlehrerin war, jetzt aber als Physiotherapeutin arbeitet.

Stadt Neustadt will unbürokratisch helfen

Die Ehrenamtlerinnen sind zwei von vielen, die sich einsetzen und unter anderem auch beim Neustädter Frühstück für ukrainische Geflüchtete halfen. Die Veranstaltung hatten das Quartiersmanagement, das Familienzentrum und Hephata für die rund 60 Menschen organisiert, die Unterschlupf in Neustadt gefunden haben.

Im Familienzentrum gibt es donnerstags zwischen 8 und 12 Uhr für ukrainische Geflüchtete die Möglichkeit, sich zu treffen, kennenzulernen und zu vernetzen. Außerdem sind Deutschkurse geplant. Und Bürgermeister Thomas Groll hat zugesagt, dass die Stadt unbürokratisch helfen wolle. So denke er zum Beispiel darüber nach, Räume für Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen.

Ein Betreuungsangebot mit Erzieherinnen und Erziehern lasse sich so einfach nicht organisieren, aber vielleicht gebe es ja ukrainische Mütter, die sich einsetzen wollen. Eine ausgebildete Pädagogin vermeldete bereits Bereitschaft.