Sie riefen „Jude raus!“ und „Jude verrecke!“

Auschwitz-Überlebende erinnert sich an Kindheit in Momberg „In der Reichspogromnacht bin ich erwachsen geworden“
Ihr Blick gleitet hinaus auf die Straße. Menschen gehen vorbei und lachen. „Es fällt mir schwer davon zu erzählen“, sagt Gisela Spier-Cohen. „Aber ich habe es versprochen.“
von Nadine Weigel
Momberg. Sie wollte nicht mehr leben. Damals im Zug, 1945. Ihre Eltern waren tot. In Auschwitz vergast worden. Gisela Spier-Cohen war allein, ohne Hoffnung und am Ende ihrer Kräfte. Sie wog nur 21 Kilo. Sie wurde ohnmächtig. Damals im Zug nach Mauthausen.
„Doch meine Freundin hat mich geohrfeigt“‚, erzählt Gisela Spier-Cohen heute. „Sie sagte, ich dürfe nicht sterben. Ich müsse am Leben bleiben, um den Menschen davon zu erzählen. Keiner würde sonst erfahren, was wir durchgemacht haben.“
Gisela Spier-Cohen überlebte. Und heute erzählt sie. Von Theresienstadt. Von Auschwitz. Von dem, was der aufgeklärte Geist kaum zu fassen vermag – vom Holocaust.
Gisela Spier-Cohen sitzt in Marburg im Cafe Klingelhöfer am Tisch. Sie sieht nicht aus wie 80 Jahre. Die kleine Person mit dem rotbraunen Haar bestellt einen Kaffee und einen Käsekuchen für Diabetiker. Gisela Spier-Cohen bestellt auf Deutsch. Dabei hat sie die meiste Zeit ihres Lebens in Kanada verbracht, wo sie noch heute lebt. Doch ihre Muttersprache hat sie nicht verlernt. Regelmäßig kommt sie nach Marburg und berichtet auf deutsch von dem Grauen, das sie überlebte. Sie erzählt Elisabethschülern aus ihrem Leben und hält so immer noch das Versprechen, das sie damals im Zug gab.
Gisela Spier-Cohen wurde 1928 in Momberg als Tochter eines jüdischen Kaufmanns geboren. „Ich habe viele Freunde gehabt, auch Nicht-Juden“, erinnert sie sich. Sie muss lächeln, wenn sie daran denkt, wie sie immer mit den Momberger Kindern Fußball gespielt hat. „Ich durfte immer nur ins Tor“, sagt sie mit einem Augenzwinkern und streicht die Tischdecke glatt.
Gisela Spier-Cohen hatte eine schöne Kindheit. Sie, ihr Bruder Manfred und ihre Eltern waren ins Momberger Dorfleben integriert. Bis zum November 1938. In der Reichspogromnacht stürmten Angehörige der SA das Haus ihrer Eltern. „Ich war an innert sich Spier-Cohen. Ihre Mutter hatte sie weggeschickt zu einer Bekannten. „Wir waren von Mombergern gewarnt worden und meine Mutter wollte mich in Sicherheit wissen.“
Doch als die kleine Gisela morgens nach Hause zurückkehrte, und ihre Mutter im Nachthemd weinend auf der Straße stehen sah, wusste sie, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein musste. „Mama nahm mich mit zur Synagoge“, erzählt Spier-Cohen. Dort hatten die SA-Männer versucht, die Synagoge zu verbrennen. „Die Bauern verhinderten es, weil sie Angst hatten, dass das Feuer auf ihre Scheunen überspringt“, sagt die alte Frau. Stattdessen hatte die SA das Mobiliar der Synagoge demoliert, auf die Straße geworfen und angezündet. „Meine Mutter und ich wühlten mit den Händen in der heißen Asche, um vielleicht noch die Thora zu retten“, erinnert sich Spier-Cohen und senkt ihren Blick. Nur langsam erzählt sie weiter. „Der Schmerz an den Händen ist nicht so schlimm gewesen wie der Schmerz in meinem Herzen“, sagt sie. „In dieser Nacht bin ich erwachsen geworden.“
Sie kam nach Frankfurt, wo sie zur Schule ging. „Das war schlimm. Ich wollte nicht weg aus Momberg“, erinnert sie sich. Die Zeit in Frankfurt war schlimm. „Wir mussten den Judenstern tragen. Die Menschen haben uns hinterher gerufen Jude raus‘ und Jude verrecke'“, erzählt sie.
Auch an die Lieder der SA erinnert sie sich noch gut. Sie kennt noch alle Texte. Die Melodien haben sich eingebrannt in ihr Gedächtnis. Leise fängt die alte Frau an zu singen. Dann ist sie still und blickt wieder hinaus aus dem Fenster.
Gisela Spier-Cohen will erzählen. Doch manches fällt ihr unheimlich schwer. Sie nestelt an der goldenen Brosche an ihrem Pullover. Es ist ein Blatt – das Geschenk einer Schulklasse. Theresienstadt war furchtbar, doch was sie in Auschwitz gesehen und erlebt hat, kann sie kaum in Worte fassen. Direkt nach der Ankunft wurde sie von ihren Eltern getrennt. „Von einem Mann mit weißen Handschuhen. Er stand auf einem Auto.“ Spier-Cohen glaubt, dass es der KZ-Arzt Josef Mengele selbst war. Ihr Bruder verhungerte zwei Wochen vor der Befreiung. Sie schweigt. Kann nicht weitererzählen. Die Erinnerung ist zu grausam.
Damals, als sie 1965 das erste Mal wieder nach Momberg zurückkehrte, war es genauso. Die Gefühle übermannten sie. „Es war einfach zu viel. Ich konnte es nicht ertragen.“ Noch heute ist sie manchmal in Momberg. Sie besitzt noch einen Garten dort. Jeder Baum erinnere sie an ihre Kindheit. An die schlimme Zeit, aber auch an schöne Kindheitstage. Im Herzen sei sie noch immer Mombergerin.
Hat sie ihren Frieden gemacht mit Deutschland? Sie schweigt. Überlegt. „Ich kann den Kindern keinen Vorwurf machen. Sie können ja schließlich nichts dafür, was ihre Großeltern getan haben. Sie sollen es aber niemals vergessen.